Introvertiert im Job: Der stille Weg zum Erfolg

In der schnelllebigen Arbeitswelt, in der Performance groß geschrieben wird, haben introvertierte Personen oft das Nachsehen. Da sie ungern im Mittelpunkt stehen und ihre Erfolge verlautbaren, werden sie häufig unterschätzt. Doch sie bringen wichtige Stärken mit, die jedes gesunde Team braucht. Wir zeigen, wie Introvertierte erfolgreich sein können, ohne über ihre Grenzen zu gehen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Etwa 36-50% der Menschen sind introvertiert.
  • Man unterscheidet grob zwischen Introversion und Extraversion, wobei kaum jemand nur eines von beiden ist.
  • Introvertiert ist nicht gleich schüchtern. Introversion beschreibt die Ausprägung eines Persönlichkeitsmerkmals, während Schüchternheit eine Charaktereigenschaft ist.
  • Introvertierte Menschen stehen nicht gerne im Mittelpunkt und haben in der Arbeitswelt oft Probleme, ihre Erfolge zu kommunizieren – dabei sind sie analytische Denker:innen, gute Zuhörer:innen und haben viele weitere wichtige Stärken für den Unternehmenserfolg.
Introvertierte ziehen in der Arbeitswelt noch immer oft den Kürzeren, da sie weniger gern aktiv auf sich aufmerksam machen. Dennoch gibt es Strategien, mit denen sie Sichtbarkeit erlangen können, ohne sich zu verstellen.

Seit die meisten Arbeitnehmer:innen wieder vollständig oder zumindest teilweise zurück ins Büro kehren, stellt sich für viele die Frage: „Wie viel Zeit im Büro ist für mich persönlich eigentlich gesund und förderlich?“

Wir alle haben die Konversation mitbekommen, wie ein erfolgreicher return to office gelingen kann, sprich, was die Mitarbeitenden dazu motiviert, ihren Arbeitsplatz wieder vom Homeoffice ins Büro zu verlegen. Oft las man: endlich wieder Kolleg:innen zufällig an der Kaffeemaschine treffen und sich austauschen, oder gemeinsam zu Mittag essen. Ein guter Ansatz, verbrachten doch viele von uns circa zwei Jahre lang unsere Zeit ohne wirklichen zwischenmenschlichen Kontakt. Doch für viele ist der Gedanke an ein belebtes Büro mehr Belastung als Motivation. Wer eher introvertiert als extravertiert (oft auch: extrovertiert) veranlagt ist, ist von Smalltalk-Situationen in der Kaffeeküche und einer volle Kantine schnell angestrengt. Wir nutzen die Chance um uns Intro- und Extraversion einmal genauer anzusehen und geben Denkanstöße, wie ruhigere Mitarbeiter:innen in Zukunft allgemein besser integriert und gefördert werden können.

Introversion versus Extraversion – wie schätzen Sie sich selbst ein?

Die Begriffe introvertiert (aus dem Lateinischen so viel wie „nach innen gewandt“) und extravertiert („nach außen gewandt“) werden umgangssprachlich oft als genau abgegrenzte Phänomene gesehen und einander gegenseitig ausschließend verwendet. Allerdings ist die Realität wie so oft eher in der Mitte zu finden – Intro- und Extraversion sind ein Spektrum. Viele Menschen zeigen Merkmale beider Ausprägungen, tendieren aber meist zu einer. Die jeweilige Tendenz lässt sich daran festmachen, ob man seine Kraft grundsätzlich daraus schöpft, mit anderen zu interagieren, oder für sich selbst zu sein. Das schließt jedoch nicht aus, dass eine introvertierte Person nicht auch aufgeschlossen oder kontaktfreudig sein kann – es kostet sie nur teils erheblich mehr Kraft.

Introversion und Extraversion unterscheiden sich zwar auf dem Papier sehr auffällig voneinander, allerdings haben die meisten Menschen Ausprägungen von beiden Seiten.

Diesen Herausforderungen begegnen Introvertierte häufig im Arbeitsleben

In der Arbeitswelt haben es introvertierte Menschen oft schon beim Lesen der Stellenanzeigen schwerer. Kommunikationsstark, aufgeschlossene Teamplayer:innen, die gerne regelmäßige Teamevents besuchen: das sind häufig die Charaktermerkmale, nach denen hier gesucht wird. Das kann schon eine erste Hürde sein für zurückhaltende Mitarbeiter:innen, die gerne auch einen ganzen Arbeitstag vor sich selbst hin tüfteln. Beim Bewerbungsgespräch merkt man bereits, dass sie ruhiger sind, sich zurücknehmen, ihre Erfolge nicht immer oder nur zögerlich präsentieren. Teamarbeit in größeren Gruppen oder Workshops fallen ihnen zudem oft schwerer, da sie die Aufmerksamkeit scheuen.

Auch im Berufsalltag kämpfen Introvertierte immer wieder mit sich und der Situation: Die bereits genannte Kaffeeküche ist für introvertierte Kolleg:innen kein gemütlicher Ort zum Austauschen und Durchschnaufen, sondern entzieht ihnen vielmehr Energie aus ihrer sozialen Batterie. Außerdem kann bereits das Umfeld am Arbeitsplatz durch zu viele Reize überfordernd auf sie wirken. Dazu zählt Lautstärke, insbesondere parallele Gespräche sind ermüdend, aber auch zu grelles Licht, unangenehme Temperatureinstellungen oder intensive Gerüche können introvertierte Menschen erschöpfen. Wichtig zu verstehen: Das ist nicht nur „gefühlt“ so, ihr Gehirn funktioniert schlichtweg anders. Im Gegensatz zu nicht introvertierten Personen ist es nämlich auch stimuliert, selbst wenn keine Reize von außen kommen. Das Gehirn introvertierter Menschen ist also aktiver und dementsprechend auch viel schneller überreizt, sagt zum Beispiel Sprachwissenschaftlerin und Autorin Sylvia Löhken in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.
Wissenschaftler:innen gehen übrigens davon aus, dass es zwischen 36 bis 50 Prozent der Menschen so geht, die Introvertierten machen also einen keinesfalls unerheblichen Teil der Bevölkerung und so auch der Belegschaft aus.

Ist Introversion ein Nachteil? Wie sich die Arbeitswelt im 20. Jahrhundert verändert hat

Leider tendiert die Mehrheit der Menschen sowohl im Alltag als auch im Job dazu, extrovertierte Charakterzüge als vorteilhafter zu beurteilen als introvertierte – Introvertiertheit wird daher oft negativ gelesen. Das äußert beispielsweise auch Persönlichkeitspsychologin Jule Specht von der Humboldt-Universität zu Berlin im Gespräch mit Deutschlandfunk Nova.

Auch laut dem Historiker Warren Susman ist Extraversion schon seit den 1920er Jahren die beliebtere Persönlichkeitseigenschaft unter den beiden. Ausgehend von den USA hat sich das gesellschaftliche Ideal um das 20. Jahrhundert in westlichen Industriestaaten grundlegend verändert. Damit hat es auch großen Einfluss darauf gehabt, was von Mitarbeiter:innen erwartet wird. In der „Culture of Character, die bis etwa 1900 vorherrschend war, waren Werte wie Verlässlichkeit, Disziplin und Gewissenhaftigkeit gefragt. Mit dem Wandel zur „Culture of Personality“ im Zuge der amerikanischen Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es nun verstärkt um die Wahrnehmung und Bewertung der Außenwelt. Susman beschreibt die neue soziale Rolle, die dadurch entstand, als performer, oder auch performing self. Dies setzt introvertierte Menschen gerade im Arbeitsalltag unter enormen Druck. Dabei stellt sich die Frage: Wenn wir aktuell ohnehin unsere Arbeitsweisen reflektieren und veraltete Konzepte der produktiven Arbeit hinterfragen, warum nicht auch diese Wahrnehmung endlich aufheben?

Introvertierten Menschen fällt es oft schwerer, sich am Arbeitsplatz Sichtbarkeit zu verschaffen. Mit Routinen und Strategien ist dies jedoch keinesfalls unmöglich!

Stärken von introvertierten Menschen

Eines ist klar – Ihre introvertierten Kolleg:innen werden sich wahrscheinlich nicht als erste im Jour Fixe zu Wort melden und ihre Erfolge präsentieren. Doch das bedeutet nicht, dass sie nicht mindestens genau so viel erreicht haben wie andere. Natürlich sind auch Vorgesetzte Teil einer Gesellschaft, die gelernt hat, selbstbewusst auftretende Menschen oft positiver zu bewerten. Dabei haben Introvertierte aber viel zu bieten.

Introvertierte Menschen können oft gut schreiben, analytisch denken, konzeptionieren, zuhören, sind extrem reflektiert und emphatisch. Diese Stärken zu kennen, kann ihnen enorm helfen, im Job weiterzukommen. Menschen wie Steven Spielberg, Emma Watson, Freddie Mercury, Barack Obama oder Eleanor Roosevelt mach(t)en es vor: Trotz ihrer Introversion sind sie weltberühmt. Diese Stärken machen sie übrigens auch zu sehr gute Vorgesetzten, da sie gut zuhören und beobachten und auf die Wünsche und Vorschläge der Mitarbeiter:innen eingehen.

Wie Introvertierte sich im Job sichtbar machen können

Introvertierte haben also einiges zu bieten und sollten deshalb auch im Job auf keinen Fall zu kurz kommen. Wie können introvertierte Menschen dies aktiv in die Hand nehmen, ohne sich verstellen zu müssen? Ein paar Ideen:

  1. Interesse zeigen. Es ist vollkommen okay, wenn Sie in einem Meeting einmal nichts teilen möchten. Durch eine aufrechte und aufmerksame Körperhaltung können Sie Kolleg:innen und Führungskräften auch nonverbal signalisieren, dass Sie interessiert beim Thema sind, was immer einen positiven Eindruck hinterlässt.
  2. Vorbereitung ist alles! Als introvertierte Person noch mehr, denn gründliche Vorbereitung gibt das nötige Sicherheitsgefühl, Ideen optimal präsentieren zu können. Sich über die genauen Ziele von Meetings zu informieren, kann helfen, wichtige Punkte sofort parat zu haben. Vor internen Besprechungen kann man außerdem bereits eine Mail mit Themen an die Teilnehmer:innen versenden. Für Veranstaltungen mit Networking gilt: Wenn Sie wissen, wer teilnimmt, überlegen Sie sich doch im Voraus, mit wem Sie nach dem Event gerne noch 1:1 sprechen möchten und worüber.
  3. Fragen stellen. Niemand hört so gut zu, wie Introvertierte – und das kann man ruhig zu einer Stärke im Job machen! Denn wer reflektierte Fragen stellt, zeigt dem Gegenüber „mich interessiert, was du sagst und ich möchte mich beteiligen“. Das ist längst keine Selbstverständlichkeit im Arbeitsalltag und wird Ihren Gesprächstpartner:innen sicher positiv im Kopf bleiben.
  4. Kennen Sie sich selbst. Was erst einmal komplex klingt, kann durchaus im Arbeitsalltag erlernt werden. Introvertierte können in der Regel sehr gut in sich hinein hören. Nutzen Sie diese Fähigkeit zu Ihrem Vorteil, indem Sie aktiv Bedingungen schaffen, in denen Sie sich wohl und sicher fühlen. Am wichtigsten ist es, die Vorstellung abzulegen, dass man es immer allen recht machen und ausschließlich nach den Regeln der „Lauten“ spielen muss.
  5. Routinen schaffen und üben, üben, üben. Am Ende hilft wie so oft nur das. Zum Glück gewöhnen wir uns schnell an Dinge, die wir öfter tun und so verlieren diese an Schwere. Setzen Sie sich bestimmte, kleine Ziele und schaffen Sie Routinen, pro Teammeeting einen Redebeitrag einbringen beispielsweise. Und wenn Sie nach einer Zeit zurückblicken, werden Sie zufrieden feststellen, dass Sie doch so einiges geschafft haben, auf das Sie stolz sein können!

Wie Unternehmen und Teamleitungen Introvertierte richtig fördern können

Auch von Seite der Teamleiter:innen und Unternehmen ist es wichtig, introvertierte Mitarbeiter:innen ihren Bedürfnissen und Stärken nach zu fördern. Wie das gelingen kann haben wir hier für Sie zusammengestellt:

  1. Introversion erkennen: Das Grundlegendste zuerst – wie erkenne ich überhaupt, dass jemand introvertiert ist? Entgegen bekannter Klischees heißt es nicht, dass die introvertierten Personen nie mit Kolleg:innen interagieren, oder stets alleine unterwegs sind. Auch introvertierte Menschen können sich gut in eine Gruppe einfügen – aber eben nur, wenn sie sich in der Situation wohl genug fühlen. Anzeichen können also sein, dass sie sich in Meetings zurückhalten, oder bei informellen Gesprächen nicht viel von sich preisgeben. Wahrscheinlich sind sie auch bei spontanen Get-Togethers nach der Arbeit zurückhaltend und suchen eher das Einzelgespräch.
  2. Reize gering halten und Überstimulation vermeiden. Während extravertierte Menschen Stimulation wie laute Musik, Licht und andere Menschen regelrecht suchen, um inspiriert und produktiv zu sein, sind Introvertierte von äußeren Reizen oft überfordert. Konversationen, die gleichzeitig stattfinden, anhaltende Geräusche, wie Türen, die auf und zu gehen, oder ein ständig klingelndes Telefon, grelles Licht– das sind Beispiele von Reizen, die Introvertierte ablenken können. Nicht nur zufällig sind viele Introvertierte gleichzeitig auch hochsensibel. Unternehmen sollten deshalb bei der Raumgestaltung des Arbeitsplatzes darauf achten, Rückzugsmöglichkeiten einzuplanen und eine ausgewogene Balance zwischen Anwesenheit und mobilem Arbeiten anzubieten, wenn dies für die jeweiligen Beschäftigten möglich ist.
  3. Rückzugsorte schaffen. Viele Büros legen Wert darauf, Kollaborationsorte und offene Strukturen im Büro zu etablieren. Doch ruhige Arbeitsplätze, an denen man ungestört sein kann, sind mindestens genauso wichtig. Introvertierte versuchen oft, sich diesen Raum in mitten des Trubels selbst zu schaffen, beispielsweise mit dem Tragen von Kopfhörern. Doch wäre es nicht optimal, wenn auch das Unternehmen daran interessiert wäre, ihren Mitarbeitenden einen Ort zum Wiederaufbau nach anstrengenden Situationen zu geben?
  4. An ihre Stärken erinnern. Das klingt banal, doch im hektischen Arbeitsalltag geht positives Feedback oft unter. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Führungspersonen ihre Mitarbeiter:innen öfter mal daran erinnern, was sie gut gemacht haben. Für Introvertierte ist dies besonders essenziell. Da es einer introvertierten Person tendenziell noch schwerer fällt, ihre eigenen Stärken ins Rampenlicht zu stellen, tut es ihnen und ihrer Arbeitsmotivation enorm gut, wenn sie sich darauf verlassen können, dass sie von ihren Vorgesetzten gesehen werden.
  5. Erfolge im Team sichtbar machen.Mit dem obigen Punkt geht einher: Introvertierte schätzen es, wenn jemand die von ihnen oft gefürchtete Rolle übernimmt, ihre Erfolge sichtbar zu machen. Lassen Sie als Teamleitung also gerne andere wissen, dass ihre introvertierten Kolleg:innen tolle Arbeit leisten. Damit sich niemand besonders herausgegriffen fühlt, bieten sich auch regelmäßige Acknowledgement-Formate für ihr ganzes Team an, in denen die Leistungen aller Teammitglieder anerkannt werden.
  6. Zeit für Entscheidungen lassen: Introvertierte brauchen oft ein bisschen Zeit zur Reflexion, um Entscheidungen zu treffen. Lassen Sie dies zu, indem Sie beispielsweise realistische Fristen für Rückmeldungen setzen, anstelle eine sofortige Entscheidung zu erfragen.
  7. Anrufe ankündigen. Eine Sache, die viele Introvertierte in zwei Jahren Homeoffice über sich gelernt haben, ist: Sie möchten nicht spontan angerufen werden. Zwar nehmen sie sich immer gern Zeit für andere, sind aber noch lieber darauf vorbereitet. Ein kurzes Heads-Up via Messenger genügt hier oft. Wichtig ist hierbei natürlich: eine Bestätigung abwarten – dann steht einem produktiven Telefongespräch nichts mehr im Wege.

Zu guter Letzt

Viele introvertierte Menschen mögen Regen. Regen erzeugt nämlich weißes Rauschen, das eine beruhigende Wirkung hat und ihnen die Möglichkeit gibt, sich für eine Weile in sich selbst zu flüchten. Bei Regen sinkt außerdem die Erwartung an den Tag, stets aktiv sein zu müssen, was Introvertierte oft mental entlastet. Ein praktischer Trick für den Alltag kann daher sein, sich die Regengeräusche einfach über Kopfhörer selbst auf die Ohren zu holen.


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Stand des Artikels: 23.02.2023
Die Autorin

Yvonne Müller

MEDISinn-Redaktion

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