Die Arbeitszeiterfassungspflicht: Segen für die Work-Life-Balance?

Mit dem neuen Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist klar: Arbeitszeiterfassung wird für alle Unternehmen zur Pflicht. Was unmodern klingt und nach Kontrolle „riecht", ist in Wahrheit aber eine Chance zur Rückkehr einer gesunden Work-Life-Balance – ohne massive Überstunden. Gerade im Homeoffice mit seinen Arbeitszeiten, bei denen die Grenzen gern verschwimmen, haben viele Arbeitnehmer:innen den Blick für ein gesundes Nebeneinander von Privatem und Beruflichem nämlich verloren.

Das Wichtigste in Kürze

  • Nach dem „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs bestätigt nun auch das Bundesarbeitsgericht die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung.
  • Damit müssen alle Unternehmen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter:innen verbindlich erfassen – analog oder digital.
  • In Deutschland werden zu viele unentgeltliche Überstunden geleistet – zu Ungunsten der Gesundheit.
  • Werden sie dokumentiert, nützt es sowohl Arbeitnehmer:innen als auch Vorgesetzten (zur Planung) und Arbeitsmediziner:innen (zur Burnout-Prävention).
  • Die Vertrauensarbeitszeit ist mit der Zeiterfassung zwar in Gefahr, wird für viele Mitarbeiter:innen aber endlich einen Rahmen bekommen, der sich positiv auf die Work-Life-Balance auswirkt.
Frau sitzt gemuetlich im Sessel am Laptop
Arbeitszeiterfassung schützt Arbeitnehmer:innen nicht nur vor oft unbezahlten Überstunden, sondern ermöglicht auch ein flexibleres, moderneres Arbeitsmodell. Bildquelle: iStock/Dima Berlin

Beim Betreten des Gebäudes schnell den Finger ins Lesegerät halten, und schon ist der Arbeitsbeginn „gestempelt.“ Kurze Frühstückspause, ausstempeln, einstempeln. Mittagspause im Homeoffice – das gleiche Spiel: ausloggen, einloggen… ja, das kann nerven. Und ja, man kann sich kontrolliert fühlen. Warum müssen wir das nun noch mal genau machen – egal ob im Unternehmen oder im heimischen Büro?

Arbeitszeiterfassung, früher bekannt als die „Stechuhr“, passt ins moderne Arbeiten mit flexiblen Zeiten und Homeoffice eigentlich nicht wirklich rein. Schnell kommt das Gefühl von Kontrolle und Überwachung einerseits, Beamtentum und Dienst nach Vorschrift andererseits, in den Sinn. Dennoch: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat nun in einem Grundsatzurteil klargestellt, dass künftig alle Arbeitgeber:innen verpflichtet sind, die Arbeitszeiten zu erfassen. Auch wenn man sich zunächst Sorgen macht, dass es zu zusätzlichem Druck durch Kontrolle führen kann: Arbeitszeiterfassung birgt auch viele Vorteile. Insbesondere für die Work-Life-Balance der Arbeitnehmer:innen.

Urteil über Pflicht zur Arbeitszeiterfassung schafft Rechtssicherheit

Schon das bereits im Mai 2019 gefällte „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nahm die Mitgliedsstaaten in die Pflicht, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen. Bislang wurde in Deutschland abgewartet, wie dies konkret umzusetzen sei. Die Entscheidung des BAGs am 13. September 2022 bestätigt nun die Durchsetzungspflicht.
In vielen Bereichen wie etwa der Industrie, in Behörden oder im Gastgewerbe, ist die Zeiterfassung bereits gelebte Praxis. Nun aber sind alle rund 45 Millionen Beschäftigte in Deutschland betroffen, wovon viele im sogenannten Vertrauensarbeitszeitmodell arbeiten. Bislang koordinierten diese Arbeitnehmer:innen ihre Arbeitszeit selbstständig und wurden diesbezüglich nicht „kontrolliert“.
Das Urteil wird sich somit zwangsläufig auch auf flexibles und mobiles Arbeiten, sowie auf die Vertrauensarbeitszeit auswirken. Wobei Expert:innen davon ausgehen, dass die gelebte Praxis des Homeoffices davon nicht beeinträchtigt sein wird , da aus- und einloggen mit modernen Zeiterfassungssystemen sowohl stationär in den Unternehmen als auch am eigenen Rechner zu Hause funktioniert. Vielmehr müssen Arbeitgeber:innen ihren Verpflichtungen zum Arbeitsschutz auch hier nachkommen und sicherstellen, dass ihre Mitarbeiter:innen Höchstarbeits- und Ruhezeiten einhalten.

Überstunden adé?

Für Arbeitnehmer:innen schafft die neue Regelung vor allem im Hinblick auf zu viel geleistete Arbeit Vorteile. Das ist auch dringend nötig: Über die Hälfte der deutschen Befragten gab nämlich an, regelmäßig Überstunden zu leisten. Durchschnittlich 4,5 Millionen Menschen haben in Deutschland im Jahr 2021 deutlich mehr gearbeitet, als in ihrem Arbeitsvertrag vereinbart war. Viele Zahlen und Statistiken belegen die Notwendigkeit einer klaren Regelung für Arbeitszeiten zusätzlich: 2021 machten Arbeitnehmer:innen in Deutschland rund 818 Millionen bezahlte und 893 Millionen unbezahlte Überstunden.
Beschäftigte im Homeoffice machen aktuell dabei fast doppelt so viele Überstunden, wenn die Arbeitszeit nicht aufgezeichnet wird. Dabei zeigt eine Studie der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg: Eine Stunde länger arbeiten pro Woche führte dazu, dass die Befragten ihre Gesundheit um zwei Prozent schlechter einschätzten und häufiger einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen mussten. Und zwar unabhängig von der Bezahlung: Überstunden führen oft zu ernstzunehmenden Erkrankungen, wie zum Beispiel Burnout, und können in der Tat krank machen.

Mit der Zeiterfassung wird es nun möglich sein, die Arbeitsgesetze diesbezüglich besser im Blick zu behalten und gleichzeitig auch zu dokumentieren, ob die zulässige Höchstarbeitszeit (48 Stunden pro Woche) sowie wöchentliche Ruhezeiten eingehalten werden.

Obwohl die Anzahl der Überstunden im Schnitt leicht sinkt, leisten Arbeitnehmer:innen in Deutschland diese noch immer hauptsächlich unbezahlt. Quelle: Statista

Arbeitszeiterfassung: Für Arbeitnehmer:innen viele Vorteile

Die Auflösung von Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit ist das große Opfer der modernen Arbeitswelt und führt nicht selten in den Burnout, wenn niemals Feierabend ist. Im Jahr 2020 erhielten rund 180.000 Arbeitnehmer:innen genau diese Diagnose, ergaben hochgerechnete Zahlen der AOK-Krankenkasse. Die Arbeitszeiterfassung kommt dem entgegen, indem sie genau solche Fallstricke offenlegt. Arbeitnehmer:innen können so ihre Rechtsansprüche auf ordnungsgemäße Abrechnung und Einhaltung der Arbeitszeit sowie Pausen verbessern und treten argumentationsstärker bei Rechtstreitigkeiten zur Durchsetzung von Überstundenvergütung und Arbeitszeitbegrenzung auf.

Nicht weniger wichtig: Die Zeiterfassung liefert außerdem Daten über Auslastung und Überstundensituation und kann für eine Burnout-Prävention genutzt werden. Indem sowohl Mitarbeiter:innen als auch Führungskräfte eine Übersicht und Transparenz über geleistete Arbeitszeiten bekommen, wird die Auslastung – und auch die Überlastung – deutlich. Und das vor allem auch für den arbeitenden Menschen selbst: Wer „nach Gefühl“ und ohne eigenes Monitoring weiter arbeitet, wendet meist viel mehr Stunden auf und neigt zur Selbstausbeutung. Software-gestützte Zeiterfassung, die gleichzeitig einzelne Projekte oder Aufgabenverteilung abfragt, bietet Arbeitnehmer:innen eine bessere Einschätzung ihrer eigenen Kapazitäten und zeigt Projektleiter:innen und Führungskräften auf, wo die Arbeitslast ungerecht verteilt und Umverteilung sinnvoll ist. Das birgt dementsprechend auch Vorteile für Unternehmen: Gesunde Mitarbeiter:innen sind nicht nur leistungsfähiger und fallen seltener aus, sie sind auch zufriedener. Ein wichtiger Aspekt im Hinblick auf Mitarbeiter:innenbindung.

Auch wenn mit der Zeiterfassung die Vertrauensarbeitszeit, die für viele zum Wohlfühlen dazugehörte, endet, so wird eine flexible Gleitzeitregelung damit erst wirklich gerecht umsetzbar. Umfragen bestätigen das: Beschäftigte erholen sich außerhalb der Arbeitszeit besser, wenn die Arbeitszeit allgemeingültig und für alle dokumentiert wird.

Arbeitnehmer:innen, vor allem auch im Homeoffice, können nach der Arbeit besser abschalten, wenn die Arbeitszeit für alle gleichermaßen vom Unternehmen erfasst wird. Bild- und Informationsquelle: Hans-Böckler-Stiftung/Böckler Impuls

Gefahr: Zeitorientierung anstelle von Produktivität

Schwierig wird es in Unternehmen, die sich (zu) stark auf die Zeiterfassung stützen. Wenn sie den Blick dafür verlieren, welche Arbeit ihre Mitarbeiter:innen unabhängig von der reinen Anwesenheit leisten, dann könnte das die Produktivität hemmen. Denn es gilt: Wer jeden Tag acht Stunden im Unternehmen verbringt, muss nicht auch gleichzeitig volle acht Stunden produktiv gewesen sein. Wird die Zeiterfassung einzig als Maßstab dafür genommen, ob die Arbeit geleistet wurde, dann wird das die Arbeitszufriedenheit behindern. Mitarbeiter:innen könnten sich auf Dauer kontrolliert fühlen, wenn die Wertschätzung leistungsunabhängig erfolgt. Vielmehr sollte ihnen deutlich gemacht werden, dass die Erfassung der Arbeitszeit beispielsweise der Vermeidung von Überstunden und der Unterstützung ihrer individuellen Arbeitsweise und Arbeitszeiten dient. Gleichzeitig müssen Unternehmen, die bislang auf Vertrauensarbeitszeit setzten, Alternativen finden. Denkbar wären beispielsweise Kernarbeitszeiten und verbindliche Ruhezeiten, innerhalb derer keine Arbeitszeit erfasst werden darf – ergo nicht gearbeitet werden darf.

Modelle der Erfassung: Stempeluhren, digitale Modelle und Co.

Wie die Arbeitszeit erfasst wird, bleibt den Unternehmen letztendlich selbst überlassen. Wichtig ist eine verbindliche interne Regelung und eine umfassende Kommunikation der neuen Maßnahmen und Regeln. Informationsveranstaltungen zur richtigen Anwendung der neuen Methode sind ein guter Weg, um auch Fragen direkt begegnen zu können, Vorurteile zu bekämpfen und Regelungen bezüglich der Erfassung von Pausen zu erklären. Eine transparente Kommunikation erhöht die Akzeptanz innerhalb der Belegschaft – sei es bei der Einführung von einfachen Stundenzetteln oder komplexen Systemen mit App oder stationären Terminals.

Ein klassisches Modell aus dem Handwerk ist der Stundenzettel. Mit ihm können Unternehmen dokumentieren, wieviel Zeit am Tag gearbeitet wird, falls nötig auch unterteilt in einzelne Aufgabengebiete. Einfacher ist dies mit einem Tabellenkalkulationsprogramm möglich. Vor allem aus Behörden oder aus der Industrie kennt man die Stechuhren, so wird die reine Anwesenheit erfasst – wahlweise mit einer Lochkarte oder etwas moderner mit Mikrochips oder Fingerabdruck und computergesteuerten Zeitkontrollsystemen. Digitale Zeiterfassung mittels Software ermöglicht die Koordination von Ressourcen und Projekten und kommt dem agilen Arbeiten entgegen. Da es auch zur Projektsteuerung verwendet werden kann, wird es das favorisierte Modell für die sonstige Vertrauensarbeitszeit sein.

Fazit

Arbeitszeiterfassung bringt ein bisschen Kontrolle für viel Freiheit – vor allem vor dem Hintergrund geleisteter Überstunden und Mehrarbeit. Arbeitgeber:innen müssen ihren Angestellten die Angst vor der Überwachung nehmen und dafür werben, dass die Arbeitszeiterfassung einzig der Dokumentation und damit ihrem Wohlergehen dient. Dass beispielsweise Kreativität und Kontrolle sich nicht ausschließen, muss hierfür schon in der Unternehmenskultur vorgelebt werden. Eine transparente und wertschätzende Kommunikation hilft, die Akzeptanz von Arbeitszeitdokumentation zu erhöhen und ihr zum Erfolg zu verhelfen, von dem alle Seiten profitieren.


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Stand des Artikels: 21.11.2022
Die Autorin

Alina Nagel

MEDISinn-Redaktion

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