Stressbewältigung – Kein Stress mit dem Stress!
1. Stress gilt im Allgemeinen mittlerweile als Volksleiden – vor allem im Arbeitsleben. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
Ja, für manche ist Stress sogar die Seuche des 21. Jahrhunderts – und das schon lange vor Corona. Dafür sprechen auch die Gesundheitsstatistiken. Stress ist ein großer Risikofaktor in unserer Gesellschaft, da stressbedingte Erkrankungen in den letzten 20 Jahren stark zugenommen haben; insbesondere psychische Leiden. Und mittlerweile wissen wir auch, dass viele physischen Erkrankungen und Symptome, wie zum Beispiel Rückenschmerzen oft durch Stress verursacht oder verschlimmert werden. Auch psychosomatische Erkrankungen nehmen immer mehr zu. Corona hat diese Tendenzen noch einmal verschärft und hatte auch einige neue Belastungsfaktoren mit im Gepäck: Die Themen Work-Life-Balance, Homeschooling und die ständige Nachrichtenflut zur Pandemie. Das hat viel emotionalen und sozialen Stress nach sich gezogen. Aber auch individuell reagieren die Menschen sehr unterschiedlich. Deshalb wundert es nicht, dass in aktuellen Erhebungen die sogenannte Beanspruchung, also das gefühlte Stresserleben, bei Arbeitnehmern:innen durch COVID-19 noch einmal deutlich angestiegen ist.
2. Was sind die häufigsten Gründe für Stress in der heutigen Gesellschaft?
Das Thema Stress ist insgesamt sehr komplex und facettenreich, da zum einen jede:r Stress ganz individuell erlebt und zum anderen viele Umweltfaktoren mit hineinspielen. Im Arbeitsalltag spricht man von einer VUKA-Welt: Sie ist volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig. Diese Faktoren treffen bei uns oft auf gegenläufige Bedürfnisse nach Stabilität, Eindeutigkeit, Einfachheit usw. Wenn VUKA zu viel wird, dann entsteht zwangsläufig ein Spannungsfeld. Allerdings hängt das auch sehr von der jeweiligen Person ab, welche Bedürfnisse bei ihr ausgeprägt sind und über welche Strategien sie verfügt, um gut mit Stress umzugehen. Außerdem spielt auch der Kontext eine Rolle, beispielsweise die Kultur oder Führung im Unternehmen.
3. Ist Stress nur negativ?
Nein. Stress an sich ist sehr wichtig für unser Leben! Jeder hat eine ganz individuelle innere Stressampel, die von Mensch zu Mensch, aber auch je nach Situation sehr unterschiedlich schnell von Grün auf Rot schaltet. Das ist ein Aktivierungsprozess, der unsere Aufmerksamkeit schärft. Nur so kann unser Körper genügend Ressourcen zur Verfügung stellen, um die Herausforderungen zu meistern. Dabei ist die Bewertung der Situation entscheidend – ob wir entspannt bleiben, uns begeistern lassen, vielleicht sogar einen sogenannten Flow (einen Zustand absoluter Konzentration und Selbstwirksamkeit, Anm. der Redaktion) erleben oder eher in eine Angst-Spirale geraten. Sie sehen schon: Stress hat durchaus eine positive, lebenswichtige Seite. Wenn Stress aber chronisch oder sehr stark wird, wirkt er negativ. Dann ändert sich auch die Wahrnehmung und Bewertung unserer Umwelt. Die Folgen: Kurzfristig blockiert er durch den berühmten Tunnelblick unsere Kreativität und geistige Flexibilität, langfristig kann er uns krank machen.
Neben unserem Stresssystem haben wir als Gegengewicht allerdings auch ein inneres Belohnungssystem. Das Stresssystem signalisiert uns vereinfacht gesagt, was wir nicht haben möchten – Flucht oder Angriff ist dann unsere gewohnte Reaktion. Das Belohnungssystem signalisiert uns, was wir haben wollen. Das Streben danach motiviert uns. Dominiert aber eines der Systeme dauerhaft, so dämpft es das andere. Schaltet das Stresssystem also dauerhaft auf Rot, nehmen wir weniger die Belohnungen in unserem Leben oder gute Feedbacks wahr. Auch durch sogenannte Mikrotraumata, also häufige, heftige negative Erfahrungen, in denen wir Ohnmacht erleben, wie zum Beispiel Bloßstellungen im Job oder nicht nachvollziehbare Kritik, kann das Stresssystem übermäßig aktiviert werden. Dann nehmen wir weniger bis gar keine Belohnungen oder Ressourcen wahr, es bleiben eher die negativen Dinge im Gedächtnis haften und wir verstricken uns im Stresserleben, konzentrieren uns vorwiegend auf Fehler und Probleme. Kreativität, Lösungsorientierung, Perspektivwechsel - all das geht verloren.
4. Macht bei Stress also die Dosis das Gift? Oder muss man sich einfach daran gewöhnen?
Ja und nein. Zum einen hat Stress ja, wie bereits erwähnt, viele positive Aspekte. Man erlebt etwas als Herausforderung, die man bestehen möchte. Das kann bei Erfolg unsere Selbstwirksamkeit und damit einen wichtigen Resilienzfaktor stärken. Wird Stress aber chronisch oder zur Angst übersteigert, zum Beispiel wenn wir uns ständig vom Vorgesetzten bedroht fühlen, entsteht eine kontinuierliche ständige innere Anspannung, die auf Dauer krank macht. Daran sollte man sich auf keinen Fall gewöhnen!
5. Stress statistisch zu messen und eindeutige Zusammenhänge zu Erkrankungen zu belegen, ist schwierig. Gibt es trotzdem belastbare Zahlen?
Ja, es gibt eine Reihe von Stressreports, die unter anderem Zusammenhänge zwischen den Arbeitsbedingungen und Stress darstellen und untersuchen, beispielsweise von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und beispielsweise von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (zuletzt Stressreport 2019, Anm. der Redaktion).
6. Stress ist sehr individuell. Gibt es trotzdem Tipps, mit denen Jede:r versuchen kann, stressresistenter zu werden?
Das Gute ist: Unsere Reaktionen auf Stress werden durch unsere Lebenserfahrung immer weiter geschult. Negative Erlebnisse mit Eltern, beispielsweise mit Lehrern oder anderen Autoritätspersonen wie etwa Vorgesetzten können uns negativ prägen und sensibilisieren. Genauso stärken uns aber positive Erlebnisse, wenn wir beispielsweise eine Krise gemeistert haben. Diese Erfahrungen stehen uns dann in Zukunft zur Verfügung. Gegen diesen Stress hilft es, unser Selbstwertgefühl oder unsere Konfliktfähigkeit grundsätzlich zu stärken. Resistenz ist in diesem Zusammenhang vielleicht kein so guter Begriff, schließlich hat Stress ja auch eine Hinweisfunktion. Wir merken dadurch: Oh, da ist was anstrengend beziehungsweise unangenehm – muss ich hier vielleicht mein Verhalten anpassen? Grundsätzlich eignet sich das Wort Resilienz besser. Es beschreibt unsere Widerstandsfähigkeit gegen Stress oder unsere Stresskompetenz. Dabei geht es um einen Grad an Robustheit und, was noch wichtiger ist, um unsere Anpassungs- und Lernfähigkeit in herausfordernden Situationen.
7. Wie kann man also seine individuelle Belastungsgrenze schützen lernen, um das Risiko für stressbedingte Krankheiten zu senken?
Eigene Grenzen zu wahren, ist wichtig. Achten Sie auf Ihren Körper und seine Signale: Stress spürt man meist in denselben Körperregionen. Suchen Sie in absoluten Stresssituationen zunächst eine Distanzierung, indem Sie zum Beispiel komplett aussteigen und etwa einen kurzen Spaziergang machen. Je nachdem, wie angespannt die Situation ist, kann es auch helfen, über den Stress oder die Beanspruchung beziehungsweise Arbeitsintensität zu sprechen oder um eine kreative Pause zu bitten. Oder die Aufmerksamkeit bewusst vom Stress-Reiz abzulenken, zum Beispiel, indem Sie sich bewusst auf Ihren Atem fokussieren. Es kann auch entlasten, Kollegen/-innen um deren Meinung zum Thema oder um Unterstützung zu bitten. Eine weitere Möglichkeit: Probieren Sie einen Mindswitch, also eine komplette Änderung des Gedankengangs, vom Problem hin zu möglichen Lösungen. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass wir gut für uns sorgen. Dass wir Belastungsgrenzen kommunizieren, um Unterstützung bitten oder lernen auch mal nein zu sagen, wenn wir sowieso schon an unserer Kapazitätsgrenze angelangt sind. Das alles erfordert Übung, aber ein reflektierter Stress-Umgang lohnt sich in jedem Fall. Grundsätzlich ist es nämlich zentral, dass wir unsere äußeren und inneren Konflikte klären, da sie eine hohe Belastung erzeugen.
8. Oft agieren Menschen unter hoher Stressbelastung in einem Autopilot-Modus. Wie kann man hier achtsamer werden und gegensteuern?
Wie wir Reize bewerten, hängt sehr stark davon ab, wie hoch wir unsere eigene Kompetenz einschätzen, mit der neuen Situation fertig zu werden. So kann es zum Beispiel passieren, dass wir uns im ersten Moment von einer neuen Aufgabe völlig überfordert fühlen und einen Stressschub haben. Im zweiten Moment kommt uns aber dann eine ähnliche Erfahrung aus der Vergangenheit ins Gedächtnis, die wir mit bestimmten Strategien gut bewältigt haben. Dadurch bewerten wir die Situation neu und können sie als positive Herausforderung annehmen. Oder aber wir geraten in eine Stressspirale und verbleiben im Fluchtmodus. Grundsätzlich ist es sehr hilfreich, das eigene Selbstwertgefühl und Kompetenzerleben zu stärken. Daran kann Jede:r arbeiten. Schließlich wächst gerade in Krisen und bei Stress unsere Resilienz, insbesondere wenn wir sie reflektieren und lernen, Stress neu einzuordnen und zuversichtlicher in die Zukunft zu blicken. Leider lernt man Stressbewältigung eher nicht im Urlaub, sondern nur, indem man mit dem Stress arbeitet und ihn nicht vermeidet.
9. Gibt es eine Anti-Stress-Einstiegsübung, die unsere Leser:innen direkt mal ausprobieren können (mit und ohne Vorerfahrungen)?
Jede:r sollte auf jeden Fall unterschiedliche Achtsamkeitstechniken wie etwa bewusstes Atmen ausprobieren, um Stress individuell besser abzubauen. Zunächst außerhalb von Stresssituationen, später dann auch bei akuten Stressoren, um sich zu distanzieren. Realistischen Optimismus einzuüben, ist ebenfalls sehr hilfreich. Machen Sie sich regelmäßig im Arbeitsalltag bewusst, was Sie gut gemacht haben, feiern Sie Ihre Erfolge. Das können Sie etwa vor jedem Feierabend in einem kurzen Erfolgsjournal eintragen. Eine kleine Einstiegsübung aus der positiven Psychologie, um Optimismus einzuüben, kann zum Beispiel auch sein: Achten Sie ganz bewusst auf positive Signale im Alltag. Nehmen Sie auf dem Arbeitsweg zum Beispiel wahr, wie viele Menschen Sie anlächeln. Ich prophezeie: Bald werden Sie sich selbst schon mit einem leichten Lächeln auf den Weg machen!
10. Beim Stichwort Achtsamkeit fallen oft viele Schlagwörter wie MBSR, autogenes Training, Progressive Muskelentspannung u.v.m. Welche Achtsamkeitspraktiken vermitteln Sie Ihren Kursteilnehmern:innen gegen Stress?
Grundsätzlich lässt sich Achtsamkeit gut trainieren – im Prinzip wie bei einem Muskel. Und die Psychologie hat auch gelernt, sie objektiv zu messen. Dafür muss man nicht einmal täglich meditieren. Achtsamkeit ist eine Metakompetenz, die viele formale Methoden in sich vereint, aber es gibt auch eine alltägliche Achtsamkeitspraxis wie etwa die oben besprochene Optimismus-Übung, Gehmeditationen, achtsames Essen und vieles mehr. Es braucht für all das aber eine fundierte und gute Anleitung, um den eigenen Zugang zu finden. In meinen Seminaren zeige ich genau diese Wege individuell auf und gehe auf die jeweiligen Vorlieben ein – ob mit formellen Übungen wie dem Bodyscan (einer körperfokussierten Aufmerksamkeitsübung, Anm. der Redaktion), ganz unkonventionellen Formen wie die oben beschriebenen Optimismus-Übung oder auch, indem die Teilnehmenden lernen, im Alltag besser nein zu sagen und nach Feierabend besser abzuschalten.
Herr Hubal, herzlichen Dank für das Gespräch!
Zur Person
Martin Hubal hat Prävention & Gesundheitsförderung sowie Wirtschaftswissenschaften studiert. Er ist als Experte und Coach für Resilienz und Stressbewältigung für Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter tätig. Seit zwei Jahren ist er Dozent zum Thema Work-Life-Balance an der Professional School der Universität Lüneburg. Zum Thema Achtsamkeit und Stressbewältigung ist er im Rahmen der Ärztefortbildung für die AIM (Arbeitsgemeinschaft Interdisziplinäre Medizin) als Dozent tätig. Martin Hubal verfügt über mehr als 20 Jahre Berufserfahrung in der Organisationsberatung, Personalentwicklung und im betrieblichen Gesundheitsmanagement.