Gesundheitswesen 2.0: Telemedizin - Potenziale für Unternehmen
Das Wichtigste in Kürze
- Telemedizin ist ein nachhaltiger Trend und Zukunftsmarkt.
- Unternehmen profitieren auf vielfältige Weise.
- Die Akzeptanz in Deutschland wächst, ist aber insgesamt noch verhalten.
- Vor allem in punkto Datenschutz gibt es Bedenken.
- Gesetzliche Vorgaben, politische Initiativen und technologische Innovationen werden den Markt künftig dynamisieren.
Ute Wagner (Name von der Redaktion geändert) wohnt im ländlichen Brandenburg und bekam ein neues Kniegelenk eingesetzt. Ihre Reha-Übungen absolviert sie im eigenen Wohnzimmer. „Das ist eine enorme Erleichterung“, erzählt die 41-Jährige. Denn der Weg in die nächste Großstadt ist weit und eine stationäre Reha nicht möglich, weil sie die Kinder nicht allein lassen kann. Also nimmt sie an einer Studie teil und trainiert zweimal in der Woche zuhause am Bildschirm. So kann sie ihre Übungen auch gut mit ihren Arbeitszeiten vereinbaren. Das Programm heißt MeineReha, entwickelt von Forschern:innen am Fraunhofer Institut in Berlin: Der Therapeut oder die Therapeutin zeigen in Videos individuell zugeschnittene Übungen und die Patienten:innen können diese am Bildschirm nachmachen. Experten:innen in der Klinik bekommen die Bewegungsdaten digital übermittelt und geben den Patienten:innen Feedback. Der Vorteil: Orts- und zeitungebunden bekommen sie individuelle Rückmeldungen.
Online-Reha als sinnvolle Ergänzung
„MeineReha ist aktuell als Modellvorhaben der Deutschen Rentenversicherung (DRV) im Zulassungsprozess. Sobald es zugelassen ist, können Reha-Einrichtungen dieses Telereha-Angebot nutzen“, berichtet Projektleiter Dr. Michael John vom Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme FOKUS. Er erforscht telemedizinische Assistenzsysteme in der Prävention, Rehabilitation und Nachsorge. Und im aktuellen Projekt QuantifiedHealth arbeitet er mit Kollegen:innen an einem Online-Reha-Programm, nicht nur für Patienten:innen mit neuen Hüft- oder Kniegelenken, sondern auch nach anderen schweren Operationen. „Sie können oft keine Reha-Maßnahmen durchführen, weil die mit Arbeitszeiten kollidieren, weil Kinder zu versorgen oder die Anfahrtswege zu lang sind. Das ist eine Herausforderung insbesondere für Berufstätige in ländlichen Regionen.“
Internetbasierte Telemedizin kann hier eine Ergänzung sein für viele Erkrankungen, die eine Bewegungstherapie erfordern. Ein weiteres Problem, das sich so lösen lässt: „Zurück im Alltag haben die Patienten und Patientinnen oft Ängste und Hemmungen, sich zu belasten. Das führt dazu, dass sie körperliche und gesundheitsfördernde Aktivitäten meiden“, berichtet John. „Digitale Begleitung kann hier helfen, Ängste abzubauen und zu mehr Aktivität zu motivieren.“ Das Beispiel zeigt: Die Möglichkeiten der Telemedizin gehen längst über die Videosprechstunde mit dem Hausarzt oder der Hausärztin hinaus.
Gesundheitsmarkt im Wandel, Telemedizin auf dem Vormarsch
Auf dem Gebiet wird intensiv geforscht und entwickelt. Medizinisches Fachpersonal in Deutschland sieht den Nutzen und die Potenziale. Und durch die Corona-Pandemie hat das Thema zusätzlich an Relevanz gewonnen. Klarer als bisher wurde: Nicht jedes Anliegen erfordert den persönlichen Kontakt zum medizinischen Fachpersonal, nicht jedes Rezept den Besuch vor Ort in der Praxis. Auch Videosprechstunden können in manchen Fällen eine sinnvolle Alternative sein. Laut einer Umfrage nutzen Patienten:innen diese Möglichkeit, um eine Ansteckung zu vermeiden oder aus praktischen Gründen, vor allem wenn es um den Besuch in der Hausarztpraxis geht. Über 90 Prozent waren zufrieden und wollen das auch in Zukunft nutzen.
Die Potenziale und Einsatzbereiche der Telemedizin sind enorm. Hinter dem Begriff steht eine Reihe von medizinischen Leistungen in Diagnostik, Therapie und Rehabilitation über räumliche Entfernungen hinweg. Digitale Technologien machen es möglich: Online-Terminvereinbarung und -rezepte, digitale Patientengespräche, Beratung und Behandlung sowie Reha-Programme für zuhause. Das hilft vor allem dort, wo keine Spezialisten vor Ort sind – etwa in ländlichen Regionen oder Kleinstädten. So können etwa Schlaganfallpatienten ohne Stroke-Unit in der Nähe auch Hilfe über Videokonsultationen erhalten. Laut einer Prognose könnte das weltweite Volumen des Telemedizin-Marktes bis 2026 auf rund 175 Milliarden US-Dollar anwachsen.
Gesundheits-Apps sind 24/7 verfügbar
Auf dem Vormarsch sind zudem Health-Apps. Sie können seit 2019, sofern sie wissenschaftlich fundiert und zertifiziert sind, als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGa) vom Arzt verschrieben und von Krankenkassen bezahlt werden. In Deutschland prüft das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) jede App vor der Zulassung. Der Markt für diese sogenannten mHealth-Produkte (engl. mobile health) boomt.
Die App Sunface etwa unterstützt die Hautkrebsprävention mit Informationen zu UV-Strahlen, möglichen Schutzmaßnahmen und einer Alterungssimulation des eigenen Gesichts je nach Sonnenbestrahlung; das digitale Schlaftraining Somnio hilft bei Schlafproblemen. Und die DiGa Esysta soll auf der einen Seite Patienten:innen mit Diabetes und auf der anderen medizinisches Fachpersonal unterstützen. Bei Diabetes hilft das integrierte Personalisierte Diabetes Management (iPDM). Das Smartphone steht uns, anders als der Arzt, 24/7 zur Verfügung. Gerade in Zeiten eines drohenden, in ländlichen Regionen bereits offensichtlichen, Ärztemangels werden digitale Lösungen in Zukunft ein wichtiger Pfeiler der Gesundheitsvorsorge sein.
Telemedizin ist gesetzlich geregelt
Gleich mehrere Gesetze regeln die Details: Das sogenannte „E-Health-Gesetz“ von 2015 setzte den Rahmen für digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen. Darauf folgten das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) von 2019 und das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG) von 2021. Die wichtigsten Eckpunkte sind die vom Bundesgesundheitsministerium beschlossene Telematik-Infrastruktur mit digitalem Impf- und Mutterpass, elektronischen Notfalldaten und Medikationsplan sowie die elektronische Patientenakte. Hinzu kommen Gesundheits-Apps in der Pflege: Digitale Anwendungen mit Trainingsprogrammen, die helfen, den Austausch mit Angehörigen oder Pflegefachkräften zu erleichtern.
Hohe Zufriedenheitsraten trotz verbreiteter Skepsis gegenüber Telemedizin
Technisch ist heute also vieles machbar, da stellt sich die Frage: Wie sieht es mit der Akzeptanz aus? In einer aktuellen Studie gaben 65 Prozent der Befragten an, sie seien offen gegenüber Telemedizin. Das medizinische Fachpersonal zeigt sich dagegen eher verhalten: Laut Umfragen fürchten 43 Prozent der ambulanten Ärztinnen und Ärzte, die Digitalisierung würde die Arzt-Patienten-Beziehung verschlechtern – nur 14 Prozent gehen von einer Verbesserung aus.
Entziehen können sich die medizinischen Fachkräfte der Entwicklung hin zur Digitalisierung jedoch nicht: Während Ende 2017 gerade einmal zwei Prozent der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte eine Videosprechstunde anboten, waren es im Frühjahr 2020 bereits 52 Prozent. Corona hat diese Entwicklung deutlich beschleunigt, wie auch Michael John beobachtet: „Gestiegen sind insbesondere die Basisangebote wie Videosprechstunde und Onlinebehandlung. Sie wurden im Zuge der Pandemie auch für die Kostenerstattung temporär zugelassen. Viele Ärzte können sich vorstellen, diese Angebote auch nach der Pandemie weiter zu nutzen.“
In Sachen Datenschutz bleiben viele allerdings skeptisch: Nur jeder zweite Deutsche vertraut bei der Nutzung von Gesundheitsanwendungen darauf, dass die Datenschutzvorschriften eingehalten werden. Wer etwa zu BfArM-zertifizierten Apps greift, ist bei Wirksamkeit und Datenschutz auf der sicheren Seite. Grundsätzlich aber gilt: Telemedizin ist eine Ergänzung, aber kein Ersatz für den Kontakt zu Arzt oder Ärztin.
Chancen für Unternehmen
Telemedizin bietet nicht nur für Patienten:innen, sondern auch für Unternehmen viele Vorteile. Beispielsweise ermöglicht sie Mitarbeitenden insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen Zugang zu betriebsärztlichen Dienstleistungen. Sie können viele Beratungen etwa zum Mutterschutz oder bei Fragen rund um den Arbeitsplatz auch telemedizinisch in Anspruch nehmen. Das spart ihnen Zeit und den Firmen Kosten. In den USA sollen die Einsparungen bei den Unternehmen heute schon sechs Milliarden Dollar pro Jahr betragen.
„Fasst man den Begriff Telemedizin weiter als Anwendungspotenzial für digitale Gesundheitsvorsorge, ist das Potenzial sehr groß. Hier gibt es schon viele digitale Angebote.“, sagt John. Im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung können Firmen ihren Mitarbeitenden etwa Online-Sportkurse oder -Rückenschulen anbieten, Webinare zu Themen wie gesunder Führung oder Team-Building und nicht zuletzt Apps oder Wearables, die eine gesunde Ernährung fördern oder zu mehr Bewegung im Alltag verhelfen. Besonders für das Stressmanagement und die Prävention psychischer Erkrankungen haben digitale Anwendungen wie Apps den Vorteil, dass sie sehr niederschwellig sind. Um die Mitarbeitenden zu einem gesünderen Lebensstil zu motivieren, kann es helfen, auf spielerische Elemente wie Wettbewerb, Fortschrittsanzeigen und Belohnung zu setzen: Stichwort Gamification. Die Potenziale für Unternehmen liegen also auf der Hand.
Ausblick: Die Zukunft der Digitalisierung im Gesundheitswesen
In Deutschland will die Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit „Digitale Gesundheit 2025“ für eine sichere digitale Infrastruktur im Gesundheitswesen sorgen. Dafür hat das BMG das Innovationsforum „Digitale Gesundheit 2025“ initiiert. Dazu gehören neben Datensicherheit auch Technologien für KI-Diagnosen, -Therapien und -Untersuchungen, unterstützt durch Apps und Wearables. Das dürfte die Entwicklung weiter dynamisieren.
Und damit bietet die Telemedizin auch direkte Chancen und Geschäftsfelder für Unternehmen, vor allem für innovative Start-Ups, neue Produkte für diesen Zukunftsmarkt zu entwickeln. Dazu gehören virtuelle Realität (VR) oder hochentwickelte Sensoren für die Gesundheitsüberwachung von morgen. Diese werden vielleicht zu einer zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung beitragen und den Ort der Patientenversorgung von Praxis oder Klinik zumindest teilweise in das häusliche Umfeld verlagern.