Weniger Stress, mehr Motivation: Das bringt Achtsamkeit im Job

Firmen, die nachhaltig erfolgreich sein wollen, setzen heute auf Achtsamkeits-Programme. So lässt sich nicht nur Stress reduzieren und Burnout vorbeugen. Regelmäßiges Achtsamkeitstraining verbessert auch die Lebens- und Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden. Es steigert ihre Motivation und Kreativität und verbessert die Produktivität des Unternehmens.

Das Wichtigste in Kürze

  • 80 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland leiden unter Stress am Arbeitsplatz.
  • Psychische Erkrankungen sind aktuell die Hauptursache für Berufsunfähigkeit.
  • Achtsamkeit kann Stress nachhaltig entgegenwirken.
  • Regelmäßige Trainings verbessern die Lebens- und Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden. Achtsamkeit steigert ihre Motivation und Kreativität und verbessert so auch die allgemeine Produktivität des Unternehmens.
Ein großer Teil der Arbeitnehmer leidet unter Stress. Vermehre Ausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen sind die Folge. Achtsamkeitsübungen können diesem nachhaltig entgegenwirken und zudem die Produktivität steigern. Bildquelle: istock / PeopleImages

Montagmorgen: Schon fragt der Chef nach der Quartalsabrechnung. Ein Kollege bittet um Hilfe, weil er das neue Programm nicht versteht. Das Telefon klingelt nahezu ununterbrochen. Und das Postfach meldet 37 ungelesene E-Mails. Der Kopf brummt, der Nacken schmerzt, das Herz schlägt schnell. Bis zum Feierabend wird sich daran nichts ändern – und voraussichtlich auch nicht darüber hinaus.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Damit sind Sie nicht allein. 80 Prozent der Arbeitnehmer:innen in Deutschland leiden laut einer 2020 durchgeführten Studie des Versicherungsunternehmens Swiss Life unter Stress am Arbeitsplatz: Zeitdruck (55 Prozent), eine zu große Aufgabenmenge (47 Prozent) und eine schlechte Arbeitsatmosphäre (35 Prozent) sind die am häufigsten genannten Stressfaktoren. Als Folge klagen 57 Prozent über Anspannung, Unruhe (44 Prozent) und Schlafstörungen (40 Prozent).

Wird der Druck nicht aufgefangen, kann er zu ernsthaften Erkrankungen, wie zum Beispiel Burnout, führen – und das nicht selten: Psychische Erkrankungen sind mittlerweile die Hauptursachen für Berufsunfähigkeit. Bereits im Jahr 2019 zählte die AOK durchschnittlich 5,9 Arbeitsunfähigkeitsfälle je 1.000 Mitglieder aufgrund von Burnout. Damit hat sich die Diagnosehäufigkeit im letzten Jahrzehnt beinahe verdoppelt, Tendenz steigend – nicht zuletzt durch die Belastungen in der Pandemie.

Achtsamkeit als Gegengewicht zum Arbeitsstress

Für den oder die einzelne:n ist diese Entwicklung dramatisch. Auch Unternehmen leiden darunter, dass hohe Krankenstände und überlastete Mitarbeiter:innen die allgemeine Produktivität bremsen. Ein vorausschauendes Management setzt darum auf Präventionsmaßnahmen, die Stress und Burnout vorbeugen und gleichzeitig Kreativität, Engagement und Motivation der Mitarbeiter:innen steigern können. Ein Hilfsmittel, mit dem es gelingen kann, diese ständige Belastung zu reduzieren, sich aus dem Hamsterrad zu befreien und wieder mehr „man selbst“ zu sein, ist Achtsamkeit. Und während die Methode lange als Trend der Yoga-und Hipsterszene galt, interessieren sich inzwischen auch immer mehr Arbeitgeber dafür. Nicht zuletzt, weil sie sich ohne großen Aufwand in den Arbeitsalltag integrieren lässt und immer mehr Studien ihre Wirksamkeit belegen.

Was darunter zu verstehen ist, erklärt die Diplom-Psychologin und Neurowissenschaftlerin Dr. Britta Hölzel, Leiterin des Instituts für Achtsamkeit und Meditation in München: „Achtsamkeit bezeichnet das bewusste und wertfreie Gewahrwerden von Erfahrungen im gegenwärtigen Moment. Sie hat ihre Basis in der buddhistischen Psychologie und wird durch Meditationsübungen kultiviert.“ Innehalten und sich von dem ständigen Zwang befreien, etwas bewerten oder entscheiden zu müssen – damit steht Achtsamkeit im diametralen Gegensatz zu den Anforderungen und Erwartungen, die unsere Arbeitswelt an uns stellt. Zentral ist dabei auch das Thema Wertschätzung: Wer sich und andere wertschätzt, pflegt achtsamen Umgang. Andersrum können Achtsamkeits-Programme dabei helfen, die eigene Wertschätzung zu entwickeln oder wieder zu entdecken, was zur Folge hat, dass wir besser auf uns achtgeben, Überlastung rechtzeitig bemerken und gegensteuern können.

Momente der Achtsamkeit gleichen Stresssituationen im Arbeitsleben wirksam aus. Zudem unterstützen sie das eigene Selbstwertgefühl und damit auch die Selbstreflexion. Stressbedingte Überanstrengungen können so frühzeitig abgewendet werden. Bildquelle: istock/PeopleImages

Positive Effekte von Achtsamkeitspraktiken sind wissenschaftlich bestätigt

Zwar ist die wissenschaftliche Studienlage noch recht dünn, dennoch zeigt sich eine klare Tendenz dahingehend, dass Achtsamkeitstraining am Arbeitsplatz wirkt: „Die Datenlage deutet darauf hin, dass Achtsamkeitsinterventionen positive Effekte auf die Gesundheit haben, insbesondere bei Stress, Angst, Burnout und Depression. Zudem verbessern sie die Lebens- und Arbeitszufriedenheit sowie das Wohlbefinden“, sagt die Neurowissenschaftlerin. „Einzelne Studien berichten zudem über verstärkte Empathie und mehr Mitgefühl.“ Britta Hölzel selbst hat 2011 an der Harvard Medical School in Boston analysiert, wie sich Achtsamkeitspraktiken auf unser Gehirn auswirken. Dafür untersuchte sie die Teilnehmer:innen von MBSR-Trainings (Mindfulness Based Stress Reduction, zu deutsch „achtseimkeitsbasierte Stressreduktion“) sowohl vor dem Kurs als auch danach. So fand sie heraus, dass sich die Struktur der grauen Substanz im Hippocampus nach dem Training verstärkt hatte. Dieser Hirnbereich ist für Gedächtnis, Lernprozesse und Emotionsregulation zuständig. In der Amygdala, dem Teil im Gehirn, der unseren Körper in Alarmbereitschaft versetzt, hatte sich diese Substanz einhergehend mit dem reduzierten Stressempfinden verkleinert.

Auch das von der Universität München und der Hochschule Coburg durchgeführte Forschungsprojekt „Working Mind“ kommt zu positiven Resultaten. Liane Stephan, Geschäftsführerin von „awaris“, die mit ihrem Team Achtsamkeitsprogramme für Firmen anbietet, hat das Projekt begleitet. „Erste Ergebnisse zeigen deutlich, dass durch Achtsamkeitstrainings auf physischer, emotionaler und auf kognitiver Ebene Verbesserungen bei den Probanden eingetreten sind“, sagt Stephan. „Menschen spüren ihre aufsteigenden Emotionen früher. So gelingt es ihnen, aus dem Reiz-Reaktions-Automatismus auszusteigen. Das führt zu mehr Gelassenheit, besserer Atmosphäre, höherer Kreativität und am Ende des Tages auch zu einer höheren Produktivität.“

MBSR und bewegungsorientierte Verfahren sind besonders hilfreich

Firmen, die bereits heute auf Achtsamkeitsprogramme setzen, ziehen größtenteils ein positives Fazit, bestätigt auch eine Metastudie der Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA). Demnach zeigen nahezu alle Untersuchungen eine deutlich positive Wirkung auf psychische Parameter der Gesundheit, vor allem auf das Stresserleben. Das gilt besonders für MBSR-Kurse und bewegungsorientierte Verfahren wie Yoga und Qi-Gong. Die Studien zeigen auch, dass Gruppentrainings erfolgreicher sind als individuell geführte Trainings und dass Achtsamkeitstrainings die Zahl von Arbeitsunfällen verringern kann, speziell in Berufen des Gesundheitswesens.

Helmut Lind, Vorstandvorsitzender der Sparda-Bank München praktiziert in seinem Unternehmen bereits seit mehreren Jahren eine achtsame Unternehmensführung. In einem Interview für das Unternehmensprogramm „Erfolgsfaktor Familie“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sagt er: „Ganz praktisch erarbeiten wir uns die Fähigkeit, achtsam miteinander umzugehen, immer wieder neu: durch Seminare und Meditationen. So gelingt es uns, Zugang zu unserer inneren Welt zu bekommen und daraus eine Kultur zu schaffen, die sich durch äußere Hektik und das berühmte Hamsterrad weniger bestimmen lässt. Dann sind Sie – im Bild gesprochen – nicht der Taifun selbst, der um Sie herum ständig braust, sondern Sie sind im Auge des Taifuns. Und dort ist es still.“

Achtsamkeitsprogramme in Unternehmen ermöglichen einen sorgsameren Umgang sowohl mit sich selbst als auch mit anderen. So können wertschätzende Kommunikation und wertvolle Zusammenarbeit entstehen. Bildquelle: istock/skynesher

Drei wirksame Programme für mehr Kreativität und Produktivität

Wie sehen die Achtsamkeitsprogramme am Arbeitsplatz aus, die uns nicht nur stressresistenter, sondern auch kreativer und produktiver machen sollen? Drei standardisierte Gruppenprogramme, die für den spezifischen Einsatz in Unternehmen entwickelt wurden:

Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR):

Eines der erprobtesten Achtsamkeitsprogramme wurde Ende der 1970er Jahre von Jon Kabat-Zinn an der University of Massachusetts Medical School entwickelt.
Methodik
: Übungen wie Gehmeditationen, bei denen man jeden Schritt ganz bewusst wahrnimmt, oder Sitzmeditationen, bei denen der Fokus zunächst auf die Atemempfindung gerichtet wird, später auch auf Hören, Sehen, Emotionen und Gedanken, sind typisch für MBSR. Ebenso der „Bodyscan“: Hier wird die Aufmerksamkeit systematisch durch den ganzen Körper geführt. Die Teilnehmenden lernen ihr individuelles Stressverhalten kennen und proben, wie sie mit Achtsamkeit auf stressauslösende Situationen reagieren können.
In Gruppensitzung können die Kursteilnehmer ihre Erfahrungen reflektieren und Fragen klären. Weitere Themen, die in diesen Kursen behandelt werden können: der pro-aktive Umgang mit Krankheit und Heilung, Stressphysiologie und das Durchbrechen der Stressspirale mittels Achtsamkeit, achtsame Kommunikation. Ziel ist es, die Perspektive auf das eigene Erleben und Verhalten zu erweitern und so Anstöße zu geben, Verhaltensweisen zu wählen, die das eigene Wohlbefinden fördern.

Training Achtsamkeit am Arbeitsplatz (TAA):

2012 entwickelte Rüdiger Standhardt vom „Forum Achtsamkeit“ dieses Trainingsprogramm, das in Unternehmen wie beispielsweise dem ZDF oder Henkel eingesetzt wird.
Methodik:
TAA basiert auf dem MBSR-Programm, ergänzt es aber mit Elementen der Progressiven Muskelrelaxation und der Themenzentrierten Interaktion, einem Konzept zur Arbeit in Gruppen. In den Sitzungen praktizieren die Teilnehmenden gemeinsam kurze Achtsamkeitsübungen und tauschen sich über ihre Erfahrung damit aus. Auch ein kognitiver Input und Austausch zu Themen wie Selbstverantwortung, Dankbarkeit und Selbstmitgefühl ist Teil der Sessions. Hinzu kommen Selbstreflexionsübungen, zum Beispiel zu eigenen Werten und Zielen.

Search Inside Yourself (SIY):

Das Programm wurde u.a. von Chade Meng Tan 2012 beim Unternehmen Google in den USA entwickelt. Die Entwicklung und Verbesserung der Emotionalen Intelligenz insbesondere für Führungskräfte stehen hier im Vordergrund.
Methodik:
Auch SIY basiert auf dem MBSR-Programm, die einzelnen Elemente sind aber spezifischer auf das Ausschöpfen des eigenen kreativen Potentials bei der Arbeit ausgerichtet. Themen sind neben Achtsamkeit vor allem emotionale Intelligenz (mit den Komponenten Selbstwahrnehmung, Selbstregulierung, Selbstmanagement, Motivation, Empathie und soziale Kompetenzen). Dabei werden Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft zur Veranschaulichung herangezogen. Das Training ist stark interaktiv und beinhaltet viele kurze Übungen. Neben Google wird es auch von anderen großen Unternehmen eingesetzt, zum Beispiel bei SAP.

Kleine Achtsamkeits-Übungen für den Arbeitsalltag:

Tief durchatmen:

  • bevor ich einen Telefonanruf annehme
  • beim Händewaschen
  • bevor/nachdem ich etwas trinke
  • wenn ich am Kopierer/der Kaffeemaschine stehe
  • wenn ich etwas abgeschlossen habe (z.B. beim Ausschalten des Computers)

Für Bewegung sorgen:

  • Treppe statt Fahrstuhl, dabei tief und bewusst atmen
  • Im Homeoffice einen „künstlichen“ Arbeitsweg schaffen, z.B. ein zehnminütiger Spaziergang vor der Arbeit. Das hilft, Berufs- und Privatleben voneinander zu trennen.

Pausen nicht vergessen

  • Wenn man am Morgen den Arbeitsplatz eingerichtet hat, nochmal kurz innehalten
  • Zwischendurch achtsam aus dem Fenster schauen (entspannt die Augen)
  • Wenn möglich, an die frische Luft gehen

Reminder setzen

  • Ein schöner Stein oder Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch kann als Reminder helfen, regelmäßig für ein paar Atemzüge eine Pause zu machen
  • Plakativer: eine Postkarte mit der Erinnerung „Achtsam!“ von innen an die Bürotür hängen

Achtsam essen

  • Beim Essen auf Geruch, Geschmack und Farbe der Lebensmittel achten und intensiv kauen
  • Zum Essen den Raum verlassen, in dem man arbeitet

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Stand des Artikels: 10.02.2022
Die Autorin

Alina Nagel

MEDISinn-Redaktion

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