,Vulnerable Leadership‘: Mehr fühlen, besser führen

Was braucht es, um ein Team gut zu leiten? Klar, fachliches Wissen und methodische Kompetenzen, aber auch Gefühl und Mitgefühl. ‚Vulnerable Leadership‘ als Konzept einer modernen Art zu führen vereint all das. Was genau bringt es, wenn Führungskräfte Unsicherheiten zeigen, und warum jede:r im Team und das ganze Unternehmen davon profitieren können.

Das Wichtigste in Kürze

  • Beim Konzept von ‚Vulnerable Leadership‘ wird Wert gelegt auf einen offenen Umgang mit Emotionen.
  • Ein Team zu führen, heißt nicht, laut und hart zu sein, sondern Gefühle zu zeigen und Zweifel zuzulassen.
  • Wenn Führungskräfte sich verwundbar und menschlich zeigen, schafft das Vertrauen und Bindung – im Team und an das Unternehmen.
  • Führungskräfte sollen ihre Mitarbeiter:innen befähigen, ihre Aufgaben bestmöglich zu erledigen.
  • Fehlerkultur, offene Kommunikation und Transparenz fördern kreative Prozesse und Innovationen in Unternehmen.
Illustration einer Business-Frau, die auf einem Seil balanciert, das nicht geradlinig verläuft.
Emotionen im Job offen zu zeigen ist grundsätzlich ein Drahtseilakt. Aber vor allem als Führungskraft besonders herausfordernd. Wir zeigen, warum es sich aber lohnt, mutig zu sein und wo die Grenzen sind. Bildquelle: istock/Andry Djumantara

In den letzten Tagen eine Kolleg:in um Unterstützung gebeten? Einen Fehler zugegeben? Offen ausgesprochen, dass dieses Projekt verunsichernd ist? Wer mindestens einmal mit „Ja“ geantwortet hat, dem sei an der Stelle gratuliert. Denn die Kultur, in der sich gute Team-Führung durch permanentes Perfektsein, kühle Distanz und harte Entscheidungen, auszeichnete, dominiert nicht mehr. Stattdessen geraten Gefühle und das Miteinander zunehmend in den Fokus und etablieren sich als Top-Skill für moderne Teamleader.

Auch und vor allem Führungskräfte dürfen heute menschlich sein. Die Fähigkeit, mit Menschen zusammenzuarbeiten und emphatisch zu sein, gilt heutzutage laut Weltwirtschaftsforum als eine der Top-10 Skills für die Zukunft. „Empathie ist eine der wichtigsten Eigenschaften in unserer Arbeitswelt“, schreibt Managerin Magdalena Rogl in ihrem Buch „Mitgefühl. Warum Emotionen im Job unverzichtbar sind“. Dahinter steckt das Konzept von ‚Vulnerable Leadership‘.

,Vulnerable leadership‘: Was bedeutet das?

„,Vulnerable leadership‘ stellt das klassische Bild einer Führungskraft auf den Kopf“, sagt Nora Dietrich. Die Berliner Psychologin berät und begleitet Unternehmen zu Themen wie New Work, Leadership und mentaler Gesundheit. Es gehe nicht darum, dass Führungskräfte den Mitarbeitenden sagen, was sie tun sollten, sondern darum, sie zu befähigen, ihre Aufgaben bestmöglich und eigenverantwortlich zu erledigen. Neben Wissen und Strategien Skills brauchen moderne Führungskräfte auch Empathie und soziale Kompetenzen. Führungskräfte seien wie ein Coach, der das Beste aus seinen Mitarbeitenden heraushole. „Das funktioniert nur über Bindung und Vertrauen“, erklärt die Expertin.

Die Basis dafür sei das menschliche Miteinander, das Fühlen und Mitfühlen. „Wir kommen aus einer Zeit, in der Emotionen als unprofessionell, ablenkend oder irrelevant empfunden wurden. Tatsächlich sind sie aber extrem hilfreich! Emotionen geben uns tiefe Informationen, weisen uns auf Bedürfnisse hin und sind echte Beziehungsmacher“, stellt Nora Dietrich klar. Die Aufgabe von Führungskräften sei dementsprechend, die Emotionen der Mitarbeiter:innen zu erkennen, zu reflektieren und darauf einzugehen – und selbst Vorbild zu sein: sich mitunter auch selbst emotional und verwundbar zu zeigen.

Das bedeute nicht, jedem alles von sich preiszugeben und sein Privatleben auszubreiten. Es gehe vor allem darum, die Maske der Perfektion abzulegen, sich zu öffnen und eigene Unsicherheiten zu zeigen.

Verletzlichkeit hat in unserer Gesellschaft sicherlich noch nicht den besten Ruf. Wenn es aber um das Zusammenspiel zwischen Menschen geht, stellt sich immer klarer heraus, wie wichtig Authentizität ist – und niemand kann immer stark oder gut gelaunt sein. Wichtig ist aber der Umgang damit sowie auch das Verständnis anderen gegenüber. Das erklärt auch die US-amerikanische Sozialforscherin Brené Brown, Ph.D.

,Vulnerable leadership‘ wirkt auf vielen Ebenen

Emotionen immer zu unterdrücken, kostet extrem viel Kraft und damit auch kreative Energie“, erklärt die Psychologin. Dazu kommt: Unverarbeitete Emotionen können extrem belasten und auf Dauer krank machen. „Das ist kein gesundes Arbeitsumfeld, sondern fördert Depressionen und Burnout.“ Wenn Führungskräfte nachvollziehen können, wie sich Kolleg:innen fühlen und welche Bedürfnisse dahinter stecken, können sie sie gezielter und individueller fördern. Wer weiß, unter welchen Bedingungen die Mitarbeitenden bestmögliche Leistungen erbringen, kann das Arbeitsumfeld entsprechend anpassen – und sorgt so für die besten Resultate.

Ein empathisches Miteinander tut nicht nur jedem und jeder Einzelnen gut, sondern dem ganzen Team. Es schafft die Basis für echte Zusammenarbeit. Die gegenseitige Verständnis der Teammitglieder und der Führungskraft spielen eine besondere Rolle. Sie sind ein wichtiger Faktor zur Zufriedenheit im Job, so ein Bericht der Beratungsfirma McKinsey.

Die aktuelle Umfrage des Gallup-Beratungsunternehmens zeigt, dass Arbeitnehmer:innen eine geringe emotionale Bindung zu ihrem Unternehmen haben. Der sogenannte Gallup Engagement Index wird seit 2001 jährlich erhoben, in den vergangenen zehn Jahren nahm die Bindung stetig ab. Nur 41 Prozent vertrauen ihrer Führungskraft uneingeschränkt.

Auch Nora Dietrich sagt: „In Zeiten von Fachkräftemangel können Unternehmen es sich eigentlich nicht erlauben, nicht in die Bindung zu ihren Mitarbeitenden zu investieren.“ Eine hohe emotionale Bindung bringt eine geringere Fluktuation, aber auch weniger Arbeitsunfälle und Fehlzeiten mit sich, so die Gallup-Studie.

Emotionale Bindung, die auf Basis von Empathie und Verletzlichkeit entstehen kann, lohnt sich auf vielfache Weise. Nicht nur werden damit die Mitarbeiter:innenbindung sowie der Teamzusammenhalt maßgeblich gestärkt, auch die Qualität der Arbeit steigt erheblich. Das beweist der Gallup Engagement Index 2022 Deutschland.

Arbeitspsychologin Dietrich ist überzeugt: „,Vulnerable Leadership‘ hilft Organisationen, zukunftsfähiger zu werden.“ Empathie sei sozusagen der Rohstoff für Innovation. „Neugierde, Enthusiasmus, aber auch Ängste und Zweifel können extrem gute Startpunkte sein, um an innovativen Lösungen zu arbeiten“, sagt Expertin Dietrich.

Mitunter entsteht der Eindruck, ,Vulnerable Leadership‘ bedeute, dass jeder Mitarbeitende alles dürfe und die eigenen Befindlichkeiten das wichtigste seien. Führungskräfte sind und bleiben in der Verantwortung, sie stellen den Umgang mit den Mitarbeitenden jedoch auf eine andere Basis.

Wie funktioniert ,Vulnerable Leadership‘? Ein paar Strategien

Deutlich wird: ,Vulnerable Leadership‘ bringt jede Menge Vorteile. Wie aber gelingt es im Daily Business? Wie können Führungskräfte und Teammitglieder agieren? Was ist wichtig? Folgende Maßnahmen spielen dabei eine Rolle:

  1. Gefühle zulassen: Menschen sind komplexe, emotionale Individuen – das ändert sich auch nicht, wenn wir in die Arbeit gehen. Krisen gehören zum Leben dazu, Verwirrung und Wandel ebenso. Es ist okay, Gefühle zu zeigen und im Team zuzulassen.
  2. Vertrauen schenken: Ohne Vertrauen ist das gemeinsame Ziehen an einem Strang nicht möglich. Dabei komme es auf Ehrlichkeit an und dazu, dieses Vertrauen aufzubauen. Die Mitarbeiter:innen müssen spüren, dass es sich nicht nur um Floskeln handelt, sondern Authentizität wertgeschätzt wird.
  3. Aufgaben abgeben: Eine der wichtigsten Strategien für Nora Dietrich ist es, dass Führungskräfte Aufgaben abgeben. „Führungskräfte müssen nicht allwissend sein und alles selbst machen, sondern können auf ihr Team bauen“, sagt die New Work-Expertin. Indem Teamleader ihren Mitarbeiter:innen Verantwortung übertragen, fördert sie deren Bereitschaft, eigene Ideen einzubringen.
  4. Besser kommunizieren: Mehr zuhören statt selbst sprechen. „Nur wer gut zuhört, kann gut kommunizieren. Nur wer weiß, was die Teammitglieder beschäftigt, wie sie denken, was sie begeistert, kann darauf reagieren“, erklärt Magdalena Rogl.
  5. Fehlerkultur (vor)leben: Fehler gehören zum Leben dazu. Sie sind Teil des Lernprozesses und aus modernen innovativen Prozessen wie Design Thinking nicht wegzudenken. Damit eine Fehlerkultur wirklich gelebt wird, braucht es Führungskräfte, die dies vorleben, die mit eigenen Fehlern, Schwächen und Unsicherheiten offen umgehen.
  6. Zuversicht vermitteln: Wenn Führungskräfte eine positive Einstellung ausstrahlen, wirkt das ansteckend. Wichtig sei es, eine klare Richtung mit Zuversicht für das Unternehmen und die Zukunft zu teilen, das wirkt verbindend

+++ Übung: Fragen für mehr Selbst-Bewusstsein +++

„Wer empathisch führen möchte, braucht im ersten Schritt ein Bewusstsein für das eigene Selbst“, schreibt Buchautorin Magdalena Rogl. Klingt logisch, denn wer weiß, wie er/sie ist und reagiert, kann besser mit mit anderen Menschen in Beziehung kommen. Zunächst gilt es dabei, die eigenen Gefühle und Reaktionen verstehen. Beim Reflektieren können folgende Fragen helfen:

  • In welchen Situationen fühle ich mich verwundbar?
  • Wie reagiere ich dann? Wie zeige ich das nach außen?
  • Welches Bedürfnis steckt dahinter?
  • Was hilft mir in diesen Momenten?

Und so könnte es aussehen: Teamleiter Jonas verantwortet ein neues Projekt. Er fühlt sich unsicher, ob das neue Konzept funktioniert. Üblicherweise hat er seine Bedenken mit sich ausgemacht. In Gesprächen war er kurz angebunden, reagierte gereizt, die Mitarbeitenden fanden ihn unnahbar. Doch dahinter steckt eigentlich das Bedürfnis nach Sicherheit. Als Jonas im Meeting offen sagt, dass das Projekt mit Risiken verbunden ist, und Zweifel äußert – und damit seine Verletzlichkeit zeigt –, motiviert er seine Mitarbeitenden, sich aktiv in den Prozess einzubringen. Er stärkt die Bindung innerhalb des Teams, und die Mitarbeitenden trauen sich, eigene Ideen einzubringen.


Buchtipps:

  • „Mitgefühl. Warum Emotionen im Job unverzichtbar sind“, Magdalena Rogl
  • „Führung wagen”, Brené Brown

Fazit

Von ,Vulnerable Leadership‘ profitieren alle: die Mitarbeitenden, die Führungskräfte und das Unternehmen. Sich als Teamleiter:in verwundbar zu zeigen, schafft eine vertrauensvolle Atmosphäre und stärkt die Bindung. Je enger Mitarbeiter:innen an das Unternehmen gebunden sind, umso besser und zufriedener arbeiten sie. Führungskräfte können dies durch verschiedene Strategien umsetzen: mehr zuhören, Fehler eingestehen und besprechen, Aufgaben verteilen. Was dabei hilfreich ist: die eigenen Gefühle und das eigene Handeln immer wieder zu reflektieren und anzupassen. Empathie, das wird klar, ist eine der wichtigsten Arbeitsfähigkeiten für die Zukunft.


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Stand des Artikels: 31.08.2023
Die Autorin

Yvonne Müller

MEDISinn-Redaktion
Die Autorin

Alina Nagel

MEDISinn-Redaktion

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