Präsentismus beeinflusst signifikant Gesundheit und Performance

Mitarbeitende, die erkrankt zur Arbeit kommen, schaden nicht nur ihrer eigenen Gesundheit. Sie sind auch weniger produktiv und werden häufig längerfristig krank. Präsentismus, so der Name des Phänomens, ist weitverbreitet. Doch Unternehmen können unkompliziert vorbeugen – auch, indem sie ihre Angestellten für das Thema sensibilisieren.

Das Wichtigste in Kürze

  • Als Präsentismus bezeichnet die Arbeitsmedizin das Phänomen, dass Angestellte trotz vorübergehender Krankheit arbeiten und sogar ins Büro kommen.
  • Präsentismus ist hierzulande weit verbreitet, mehr als die Hälfte der Angestellten geben an, mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit zu gehen.
  • Das kann unterschiedliche Gründe haben, besonders häufig ist es eine hohe Arbeitsbelastung und der Wunsch, die Kollegen „nicht hängenzulassen“.
  • Die negativen Auswirkungen von Präsentismus sind groß: Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass die entsprechenden Mitarbeitenden später länger ausfallen.
  • Die Produktivität von Unternehmen sinkt durch Präsentismus.
  • Das Problem lässt sich von Unternehmensseite angehen: unter anderem durch Ressourcen an der richtigen Stelle, die Sensibilisierung der Mitarbeitenden und eine vertrauensvolle Unternehmenskultur.
Präsentismus ist weit verbreitet: Mehr als 50% der Beschäftigten geben an, mindestens einmal im Jahr trotz Krankheit zu arbeiten. Doch dadurch entstehen mehr Nachteile als Vorteile, für Mitarbeiter:in und Unternehmen. Bildquelle: istock/ Drazen Zigic

Eigentlich gehört man ins Bett oder wenigstens aufs Sofa, um sich auszukurieren. Aber da ist dieses wichtige Meeting, der riesige Berg Arbeit auf dem Schreibtisch oder das Gefühl, dass man die Kolleg:innen sonst hängenlassen würde. Also arbeitet man dann einfach doch. Als Präsentismus bezeichnen Arbeitsmediziner:innen das Phänomen, wenn Menschen zur Arbeit gehen, obwohl sie eigentlich erkrankt sind. Das ist nicht nur für die Betroffenen selbst ungesund, sondern auch für die Unternehmen, in denen sie beschäftigt sind.

Präsentismus ist weit verbreitet. Eine aktuelle Umfrage im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) kommt zu dem Schluss, dass 48 Prozent der Beschäftigten im vergangenen Jahr auch an Tagen gearbeitet haben, an denen sie eigentlich krank waren – bei 32 Prozent war es in Summe sogar eine Woche oder mehr. Eine Ende 2021 erschienenen Studie der Techniker Krankenkasse (TK) und des Instituts für Betriebliche Gesundheitsberatung (IFBG) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Mehr als die Hälfte der befragten Beschäftigten gaben an, manchmal, häufig oder sogar sehr häufig krank zur Arbeit zu gehen. Selbst schwere Krankheitssymptome halten etwa ein Drittel der Befragten nicht vom Arbeiten ab.

Durch den von der Pandemie befeuerten Trend zum Homeoffice verschärft sich die Situation auf der einen Seite noch: Wer ohnehin von Zuhause aus arbeitet, hat eine deutlich niedrigere Schwelle, das auch dann zu tun, wenn er oder sie sich nicht 100% fit fühlt. Anders sieht es für Beschäftigte aus, die nicht im Homeoffice arbeiten: War es vor der Pandemie nicht ungewöhnlich, auch mit leichtem Husten oder Schnupfen im Job zu erscheinen, gilt das seit Corona weitgehend als No-Go.

Nur ein schlechter Tag oder tatsächlich krank: Wo beginnt Präsentismus?

Stellt sich die Frage, ab wann man von Präsentismus spricht. Natürlich ist der Übergang zwischen Krankheit und Gesundheit häufig fließend. Bei identischen Beschwerden kann sich der/die Eine außer Stande fühlen zu arbeiten, während der/die Andere so leistungsfähig wie immer ist. Auch die Anforderungen am Arbeitsplatz spielen eine Rolle: Wenn man etwa aufgrund einer Verstauchung humpelt, ist das am Büroarbeitsplatz oder im Homeoffice kein großes Problem – für medizinisches Fachpersonal oder Beschäftigte im Einzelhandel aber schon.

In die Beurteilung, ob krank oder nicht, fließen also verschiedene Faktoren ein: die Selbsteinschätzung, die Anforderungen am Arbeitsplatz und gegebenenfalls die Beurteilung von medizinischem Fachpersonal. Und auch wenn es keine scharfe Grenze für Präsentismus gibt, dann wenigstens eine klare Definition: Präsentismus bedeutet, dass man krank – insbesondere, wenn man sich subjektiv so fühlt – zur Arbeit geht.

Mitarbeiter:innen kommen aus unterschiedlichen Gründen zur Arbeit, obwohl sie krank sind

„Zu viel Arbeit“, lautet der am häufigsten genannte Grund für Präsentismus: Das Gefühl, dass man es sich wegen der Arbeitsbelastung einfach nicht leisten, krank zu sein – besonders, wenn die Arbeitsbelastung im ganzen Team so groß ist, dass Aufgaben nicht vorübergehend von den Kolleg:innen übernommen werden können. Das war schon vor der Pandemie so. Laut dem DGB-Index Gute Arbeit aus dem Jahr 2016 sind damals 80 Prozent der Befragten, die in den vergangenen 12 Monaten in hohem oder sehr hohem Maß mehr Arbeit in der gleichen Zeit bewältigen mussten, krank zur Arbeit gekommen.

Ein weiterer Grund für Präsentismus ist die Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen. So gaben im DAK-Gesundheitsreport zum Thema mehr als 80 Prozent derjenigen, die krank zur Arbeit gegangen sind, an, dass sie dies taten, weil sie ihre Kolleginnen und Kollegen „nicht hängen lassen wollten“. Auch Angst um den eigenen Arbeitsplatz kann zu Präsentismus führen: Von denjenigen Beschäftigten, die Angst haben, ihre Arbeit zu verlieren, gingen 64 Prozent krank zur Arbeit – bei den Beschäftigten, die keine Angst vor einem Arbeitsplatzverlust haben, waren es 45 Prozent.

Auch die Branche, in der die Angestellten arbeiten, spielt dabei eine Rolle. So ist Präsentismus im Bereich personenbezogener Dienstleistungen wie der Pflege oder auch unter Lehrern besonders verbreitet. Klar: Wer hier fehlt, hat eher ein Verantwortungsgefühl für diejenigen, für deren Bildung oder Pflege man beruflich betraut ist.

Bereits vor der Pandemie galt die Solidarität zu den Kolleg:innen als wichtigster Grund, um trotz Krankheit zu arbeiten. Das beweist die DAK-Gesundheitsstudie aus dem Jahr 2016. Bild- und Informationsquelle: DAK

Wie die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts Präsentismus begünstigt

Ein großer Fortschritt für die Vereinbarkeit von Beruf und Alltag war eigentlich die Entwicklung zum Management by Objectives (auch: Führung durch Zielvereinbarungen). Hier geht es weniger um Anwesenheit als vielmehr um Ergebnisse, der geleisteten Arbeit.

Doch die Orientierung an Zielvereinbarungen verlagert zunehmend auch die Ergebnisverantwortung auf Einzelne. Und das kann zum Problem werden: Für das Erreichen der Ziele ist keine Anwesenheit mehr erforderlich. Entsprechend fällt auch weniger auf, wenn man krankheitsbedingt eigentlich nicht arbeiten könnte. Und weil es weniger auffällt, fällt es auch schwerer, die Krankheit als Ursache für eine geringere Leistung geltend zu machen. Ohnehin werden die Zielvorgaben bei Krankheit eher selten gesenkt.

So geraten die Beschäftigten in einen Entscheidungskonflikt zwischen der Verantwortung für ihre Gesundheit und dem Erfüllen ihrer Zielvorgaben – wird letzteres stärker gewichtet, führt dies häufiger zu Präsentismus.


Die Gefahren des Präsentismus für Angestellte und Unternehmen

Vor allem, wenn Präsentismus häufig vorkommt, kann das weitreichende Folgen für die Gesundheit der Angestellten haben. Wie eine Art Bumerang kann die entsprechende Krankheit die Arbeitsfähigkeit mit etwas Verzögerung über längere Zeit tatsächlich ausschalten. So zeigt etwa eine Studie aus Dänemark, dass Mitarbeitende, die mehr als sechsmal pro Jahr zur Arbeit kommen, obwohl sie sich krank fühlen, ein um 74 Prozent erhöhtes Risiko haben, einmal mehr als zwei Monate am Stück auszufallen.

Auch für das Unternehmen und die Kolleg:innen ist Präsentismus von Nachteil. So sind Beschäftigte, die am Arbeitsplatz erscheinen, obwohl sie eigentlich krank sind, weniger leistungsfähig. Sie machen mehr Fehler und sind unkonzentrierter, was bei manchen Berufen auch zu Arbeitsunfällen führen kann. „Zudem sind sie eher emotional labil, was zu Teamkonflikten führen kann. Dadurch leidet nicht nur das Betriebsklima, auch die Führung wird erschwert. Längerfristig führt dies zu wirtschaftlichen Einbußen“, heißt es im Präsentismus-Report der iga (Initiative Gesundheit und Arbeit) aus dem Jahr 2019.

Präsentismus kann höhere Kosten verursachen als Abwesenheit durch Krankheit

Wie hoch diese Einbußen sind, hat die Strategieberatung Strategy& (die globale Strategieberatung von PwC) errechnet: Sie kommen auf 2399 Euro an jährlichen Einbußen pro Mitarbeiter durch Präsentismus, das entspricht etwa zwei Drittel der Kosten, die durch Krankheit im Unternehmen entstehen Absentismus hingegen, also das Fehlen am Arbeitsplatz, obwohl man nicht krank ist, verursacht laut der Berechnung mit 1199 Euro weniger Kosten. Noch höher sind die Produktivitätsverluste, so der Befund einer im Fachmagazin „Personal“ erschienenen Übersicht: Demnach gehen bis zu 12 Prozent des Arbeitsentgelts jährlich durch Präsentismus verloren.

Studien zeigen, dass Präsentismus rund zwei Drittel der Kosten verursacht, die Unternehmen durch Krankheit entstehen. Bild- und Informationsquelle: Felix Burda Stiftung

So schützen Sie Ihr Unternehmen vor Präsentismus

Umso wichtiger und wirkungsvoller sind jegliche Maßnahmen von Unternehmen, die vor Präsentismus zu schützen und sein Vorkommen verringern.
Anhand der aktuellen Forschungsergebnisse lassen sich hier eine Reihe von Empfehlungen ableiten:

  • Präsentismus zum Thema machen: Die Angestellten sollten durch Informationsveranstaltungen oder Fortbildungen für das Thema sensibilisiert werden.
  • Betriebliches Gesundheitsmanagement stärken: Ein sichtbares betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) kann die Einstellung der Mitarbeitenden entscheidend verändern. Schon das Vorhandensein von BGM-Angeboten kann dazu führen, dass beim Abwägen zwischen der Bedeutung – etwa vom Erreichen bestimmter Arbeitsziele und der Erhaltung der eigenen Gesundheit – letztere an Gewicht gewinnt.
  • Existenzängste verringern: Wenn möglich, halten Sie die Menge an Leiharbeit und Zeitverträgen so gering wie möglich. Denn ein sicherer Arbeitsplatz schützt auch vor Präsentismus.
  • Genügend Ressourcen bereitstellen: Die Arbeitsbedingungen sollten so gestaltet sein, dass die Mitarbeitenden immer genügend Ressourcen haben, um etwa auch einen Krankheitsfall aufzufangen. Zu diesen Ressourcen gehören unter anderem die im Folgenden genannten Aspekte:
    • Der Handlungsspielraum: Hier geht es vor allem auch darum, dass die Arbeitsbelastung nicht so hoch ist, dass man keinen Handlungsspielraum mehr hat.
    • Soziale Unterstützung: Sorgen Sie dafür, dass die Mitarbeitenden auch Gelegenheiten haben, sich untereinander zu begegnen und zu unterstützen.
    • Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten: Eine ausgeprägte Kommunikationskultur, Anlaufstellen bei Problemen und Überlastung – all dies sind für Mitarbeitende wertvolle Ressourcen.

Natürlich scheint das Ausbauen solcher Ressourcen auf den ersten Blick gegen die Wirtschaftlichkeit zu handeln. Aber angesichts der Produktivitätseinbußen ist es bei genauerer Betrachtung auch eine Investition – in die Wirtschaftlichkeit.

  • Eine gute Unternehmenskultur, Anerkennung und Wertschätzung: Gleiche Maßstäbe für alle, gemeinsame Aktivitäten, Wir-Gefühl, konstruktive Kritik: Das sind Faktoren einer guten Unternehmenskultur, die dafür sorgen, dass Mitarbeiter:innen sich wohlfühlen im Beruf und bei der Arbeit. So entsteht ein höheres Vertrauen, ein niedrigeres Stresslevel – und so kann auch die Tendenz zum Präsentismus verringert werden.
  • Führungskultur verbessern, Führungskräfte sensibilisieren: Eine unterstützende Führung kann das Risiko für Präsentismus bei den Mitarbeitenden senken, legen einzelne Studien nahe. Eine unterstützende Führung bedeutet, keinen Druck auf die Angestellten auszuüben, sondern ihnen unter die Arme zu greifen und Ihnen Halt zu geben.
  • Zielvereinbarungen gesund gestalten: Bei den Zielvereinbarungen mit den Angestellten sollten auch die Rahmenbedingungen und Ressourcen geklärt werden – insbesondere, was zu tun ist bei Krankheit, wer die Aufgaben übernimmt und wie diese Person wiederum Ressourcen dafür erhält. Nur so gibt man pflichtbewussten Mitarbeitenden überhaupt die Möglichkeit, Krankheit auszukurieren.

Setzen Sie eine Aufwärts-Spirale in Gang

Viele der vorgestellten Präsentismus-Präventions-Maßnahmen haben einen angenehmen Nebeneffekt: Sie steigern auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen. Und eine größere Zufriedenheit sorgt wiederum für erhöhte Stressresistenz und eine höhere Arbeitsleistung. Es ist, wenn man so will, eine Aufwärts-Spirale: Fast alles, was Sie zum Schutz vor Präsentismus unternehmen, wirkt sich auch auf andere Weise positiv auf Ihre Mitarbeitenden und Ihr Unternehmen aus.


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Stand des Artikels: 25.04.2022
Die Autorin

Alina Nagel

MEDISinn-Redaktion
Betriebsmedizinische Leistungen
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