Long Covid und die Spätfolgen für die Arbeitswelt

Noch lange nach der eigentlichen Erkrankung leiden viele Menschen an den Spätfolgen einer Corona-Erkrankung, sogenanntem Long COVID. Das Krankheitsbild kann auch den Arbeitsalltag einschränken. Doch mit den richtigen therapeutischen Maßnahmen gelingt der Wiedereinstieg.

Das Wichtigste in Kürze

  • Aktuell spricht man von ca. 600.000 Genesenen, die derzeit unter den Langzeitfolgen von COVID-19 leiden und im (Berufs-)Alltag kürzertreten müssen.
  • Teilweise sind die Patienten noch jung und stehen mitten im Familien- und Berufsleben. Diese Spätfolgen können auch fitte Menschen und selbst Spitzensportler treffen und stark einschränken.
  • Long COVID-Patienten leiden dabei nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Ihre Belastungssymptome reichen von Angstzuständen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen.
  • Betroffene müssen langsam wieder in den beruflichen Alltag eingegliedert werden und ihre eigenen Grenzen neu kennenlernen. Das sogenannte Hamburger Modell ermöglicht ihnen eine stufenweisen Wiedereingliederung, die finanziell von der Versicherung getragen wird und somit auch Unternehmen entlastet.
Viele Menschen, die an den Langzeitfolgen von COVID-19 leiden, zeigen lange nach der Corona-Erkrankung viele diffuse Symptome. Ihr Weg zurück in einen gesunden Alltag ist weit. Viele können erst langsam wieder in den Job einsteigen. Foto: iStock/Xsandra

Die Spätfolgen einer Corona-Erkrankung belasten viele Menschen auch noch Monate nach einer Erkrankung. Die WHO schätzt, dass etwa bei jedem zehnten Patienten, der sich mit SARS-CoV-2 infiziert hat, sogenannte Long COVID-Folgen auftreten können. Die neue medizinische Leitlinie geht sogar von 15 Prozent aus. Bei mehr als vier Millionen COVID-19-Erkrankten wären das 600.000 Fälle, die im Beruf ausfallen, im Alltag kürzertreten müssen und noch lange Zeit behandlungsbedürftige Krankheitssymptome zeigen.

Long COVID ist noch weitgehend unerforscht

Kopfschmerzen, Tinnitus, Erschöpfung, Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns, chronischer Husten, Brustschmerzen, Entzündung des Herzmuskels, Durchfall, Bauch- oder Muskelschmerzen, Kurzatmigkeit, immer wieder auftretendes Fieber, Vergesslichkeit oder Depressionen – die Liste der möglichen Symptome ist lang. „Das Außergewöhnliche ist, dass die Beschwerden so mannigfaltig sind und so viele Bereiche des Körpers betreffen“, sagt Dr. Andreas Hagemann, ärztlicher Direktor der Röher Parkklinik in Eschweiler im Gespräch mit MEDISinn. Derzeit arbeiten Mediziner und Wissenschaftler daran, herauszufinden, warum es zu Long COVID kommt und wer besonders betroffen ist. Ein einheitliches Krankheitsbild gibt es noch nicht, da Langzeitstudien noch weitgehend fehlen. Eine Leitlinie mit ersten Therapieempfehlungen ist im Juli 2021 erschienen. Aber auch hier heißt es: „Für eine spezifische Therapie gibt es bislang noch keine wissenschaftlich belastbaren Belege.“ Das bedeutet: Die Therapie orientiert sich an den Symptomen.

Die Long COVID-Symptome sind auch lange nach der Erkrankung vielfältig und reichen von Fieber über Geschmacksverlust bis hin zu Verwirrtheit. Bild- und Informationsquelle: Deutsches Ärzteblatt 49/2020, 4.12.2020 (online aufrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/archiv/217002/Long-COVID-Der-lange-Schatten-von-COVID-19)

COVID-19 hat vielfältige Langzeitfolgen

Um mehr über Long COVID herauszufinden, hat die Bundesregierung im Mai ein Forschungsprogramm zu COVID-19-Spätfolgen gestartet. Fünf Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. „COVID-19 hat bei den Menschen in der gesamten Europäischen Region großes Leid verursacht, und die Berichte über die Langzeitfolgen geben zusätzlich Anlass zur Sorge“, sagte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Es ist wichtig, dass Patienten, die über derartige Symptome berichten, in die Maßnahmen gegen COVID-19 einbezogen werden, um einige der längerfristigen gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie abzumildern.“

Lange Zeit aus dem Leben gerissen

Die Krankheitssymptome sind ähnlich wie bei anderen Viruserkrankungen, zum Beispiel beim Epstein-Barr-Virus (EBV), dem Humanen Herpesvirus (HHV) oder Influenzaviren: Als häufigstes Symptom geben die Patientinnen und Patienten „Fatigue“ an, also Erschöpfung. Bei 13,3 Prozent dauern die Symptome bis zu 28 Tage an, bei 4,5 Prozent bis zu acht Wochen und bei 2,3 Prozent sogar bis zu 12 Wochen, zeigt die „Smartphone-App-Studie“.
Die meisten Long COVID-Patientinnen und -Patienten sind Erwachsene, inzwischen mehren sich aber auch die Berichte von betroffenen Kindern und Jugendlichen, wie Studien aus England und Schweden belegen. Andreas Hagemann bestätigt das auch für Deutschland: „In unsere Rehaklinik kommen Menschen allen Alters und aller Schichten. Teilweise sind die Patientinnen und Patienten noch jung und stehen mitten im Familien- und Berufsleben. Ein schwerer Schlag für sie, wenn sie plötzlich nicht mehr so einsatzfähig sind wie vorher.“ Hagemann berichtet von einer 40-jährigen Patientin, alleinerziehend mit zwei Kindern: Nach einer COVID-19-Infektion war sie nicht mehr in der Lage, die beiden zu versorgen. Der Alltag war nur mit großer Mühe zu bewältigen – an Arbeiten im Job war zunächst nicht mehr zu denken.

Chronische Erschöpfung kann jeden treffen – von der Hausfrau bis zum Leistungssportler

Selbst fitte und durchtrainierte Menschen kann es erwischen. So zum Beispiel die Triathletin Katharina Blach, die noch acht Monate nach einer COVID-19-Infektion an den Spätfolgen litt: „Das große Problem bei mir war das Nervensystem und ist es auch immer noch“, verriet sie im Deutschlandfunk. „Meine Hände und Füße sind dann wie eingeschlafen. Ich spüre sie dann nicht richtig.“ Zeitweise konnte die Sportlerin sich nur mit einem Rollator fortbewegen. Und Frank Stäbler, Weltmeister im Ringen, berichtete einen Monat, nachdem er an COVID-19 erkrankt war, dem SWR, dass er mehr als 20 Prozent an Leistungsfähigkeit eingebüßt hatte. Studien zeigen, dass noch Monate nach der Infektion bei Sportlerinnen und Sportlern Veränderungen der roten Blutkörperchen sichtbar sind. So ist der Sauerstofftransport in die Zellen und die Muskeln gestört – wahrscheinlich die Ursache für die chronische Erschöpfung.

Zu den Betroffenen zählen vor allem auch junge Menschen, die mitten im Leben stehen und die sich auch lange nach der eigentlichen Erkrankung sowohl mit physischen als auch psychischen Belastungen konfrontiert sehen. Foto: iStock/Mindful Media

Die Long COVID-Beschwerden betreffen alle Bereiche des Körpers

Doch Patientinnen und Patienten mit Long COVID haben nicht nur kardiologische oder neurologische Beschwerden. Sie leiden auch psychisch. „Viele haben nach einer COVID-19-Infektion große Ängste. Sie vertrauen ihrem Körper nicht mehr, entwickeln Depressionen oder nach einem langen Krankenhausaufenthalt sogar eine posttraumatische Belastungsstörung“, sagt Mediziner Hagemann. Wenngleich es hierzu noch keine umfängliche Untersuchungen an COVID-19-Betroffenen gibt, so zeigt das Beispiel einer Studie der Uni Jena mit Patientinnen und Patienten, die mit einer Sepsis, also einer Blutvergiftung, ins Krankenhaus kamen, deutliche Tendenzen auf, die auch auf Long Covid zuzutreffen scheinen: 20 Prozent der Sepsis-Patienten hatten bereits nach wenigen Tagen eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Nach einem so schweren Einschnitt genügt es nicht, lediglich die körperlichen Symptome zu therapieren: „Um wieder auf die Beine zu kommen, muss nach einer eingehenden Diagnostik auf vielen Ebenen angegriffen werden – die Beschwerden sollten daher mit Ergo-, Physio- und Psychotherapie behandelt werden“, so Hagemann. Gute Erfolge zeigt eine Kombination aus körperlichem Training wie zum Beispiel Aquafitness, leichtes Krafttraining im Fitnessstudio und mentaler Fitness durch Meditation und Psychotherapie.

Seine eigenen Grenzen neu kennen lernen

„Die meisten Betroffenen gehen davon aus, schon bald wieder die Alten zu sein. Wir müssen sie dann oft etwas bremsen, denn bei Long-COVID-Symptomen muss man Geduld beweisen“, sagt Hagemann. In der Regel bleiben die Patientinnen und Patienten drei Monate lang in der Klinik. Die Therapieangebote steigern sich nach und nach, da anfangs die Kraft nur für wenige Termine reicht. Nur langsam erholen sich die Betroffenen wieder. „Dann kann über eine schrittweise Eingliederung in den Alltag und über das Berufsleben nachgedacht werden“, erklärt Dr. Hagemann weiter. Beginnen die Long COVID-Patientinnen und Patienten die Reha stationär, wechseln sie nach einigen Wochen oder Monaten in die Tagesklinik. Hier wird die Behandlung an drei bis vier Tagen in der Woche fortgesetzt. Die Betroffenen schlafen jedoch zuhause und starten parallel mit einer beruflichen Wiedereingliederung.

Long COVID-Patientinnen und Patienten finden nur langsam in den Berufsalltag zurück. Die Wiedereingliederung in den Job findet stufenweise statt, damit sie sich nicht überfordern und einen Rückfall erleiden. Dank des Hamburger Modells werden sie dabei finanziell von Versicherungen unterstützt. Foto: iStock/Finn Hafemann

Versicherungen übernehmen die berufliche Wiedereingliederung

Nach dem Hamburger Modell kehren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erst einmal für einen oder zwei Tage in der Woche in den Beruf zurück. Diese Phase dauert vier bis acht Wochen. „In dieser Zeit müssen die Patientinnen und Patienten keine Leistung bringen, sie müssen nur anwesend sein – und dürfen selbst entscheiden, was sie sich schon wieder zutrauen“, erklärt Hagemann. Sie erhalten Krankengeld von der Krankenversicherung, Übergangsgeld von der Rentenversicherung oder Verletztengeld von der Unfallversicherung. So ist die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber nicht verpflichtet, ein Gehalt zu zahlen. Die Zahlung ist freiwillig. Während der Wiedereingliederung werden die Betroffenen eng von einem medizinischen Team betreut. Das ist besonders wichtig, weil sie sich häufig überschätzen und schnell wieder über die eigenen Grenzen gehen. „Sie sind voller Tatendrang und freuen sich auf ihr altes Leben“, sagt Hagemann. „Doch nach wenigen Wochen kommt dann oft der Rückschlag, bei dem sie sich eingestehen müssen: Es geht doch noch nicht.“ Manche Patientinnen und Patienten berichten dann über Schlafstörungen, Bluthochdruck oder Kopfschmerzen. „Dann ist klar, dass die Grenzen niedriger angesetzt werden müssen“, sagt Andreas Hagemann. Eine dauerhafte Arbeitszeitreduktion ist auch eine Möglichkeit, sollte jedoch genau abgewägt werden. Insbesondere bei sehr leistungsorientierten Menschen kann sich dies negativ auswirken: Es besteht die Gefahr, dass sie sich selbst stark unter Druck setzen, um das gleiche Pensum in geringerer Zeit zu schaffen.


Das Hamburger Modell: Die Berufliche Wiedereingliederung steht jedem zu

Langsam und schrittweise nach einer schweren Erkrankung oder einem Unfall in den Job zu starten, darf nicht abgelehnt werden. Weder die Krankenkasse noch der Rentenversicherungsträger oder die Berufsgenossenschaft dürfen Vorbehalte gegen die schrittweise berufliche Wiedereingliederung (das sogenannte „Hamburger Modell“) äußern. Jeder hat grundsätzlich einen rechtlichen Anspruch – auch Teilzeit- und Aushilfskräfte oder befristet Angestellte. Arbeitgeber dürfen diese Maßnahme nicht verweigern.


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Stand des Artikels: 27.08.2021
Die Autorin

Alina Nagel

MEDISinn-Redaktion
Betriebsmedizinische Leistungen
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